Pelé: Der 1000-Tore-Mann
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Der erste Dreifach-Weltmeister: Pelé auf den Schultern der Fans im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt nach dem Sieg im Endspiel der WM 1970 gegen Italien.
© Quelle: imago images/Sven Simon
In den Neunzigerjahren soll es eine repräsentative Umfrage gegeben haben, die von einem Fernsehsender in Auftrag gegeben wurde. Darin wurden angeblich über 100.000 Brasilianer gefragt, ob sie den Fußballer Pelé kennen. Es soll sich kein einziger Mensch gefunden haben, der diese Frage damals mit Nein beantwortete.
Wo Legenden sind, sind legendäre Geschichten über sie oft nicht weit. Ob diese tatsächlich immer stimmen oder nur deshalb existieren, weil spektakuläre Menschen eben auch spektakuläre Geschichten brauchen, sei dahingestellt. Natürlich gibt es diese kaum verifizierbaren Storys auch zahlreich über Edson Arantes do Nascimento, kurz Pelé.
Es ist eine Mischung aus Bewunderung und Hingabe, aus Faszination und Liebe, welche seine Landsleute für diesen Mann empfinden, der später sogar Sportminister wurde. Er hat das geschafft, wovon jedes Kind träumt, das in einer der vielen Favelas aufwächst, in ärmlichsten Verhältnissen. Edson Arantes do Nascimento hat es mit Fußballspielen aus seinem Elendsviertel geschafft, in die Glamourwelt des Fußballs aufzusteigen – zu einem der größten Sportler, die es jemals auf diesem Planeten gegeben hat.
Da wir gute Brasilianer sind, ist Pelé unser Gott, zumindest ist er meiner. Das Spiel dürfte eigentlich nicht Fußball heißen – es müsste Pelé heißen.
Romario,
brasilianischer Weltfußballer
Die Verehrung seiner Landsleute ist aber kaum mit der für einen legendären Sportler anderer Nationen zu vergleichen. Kein Michael Jordan, kein Usain Bolt, kein Michael Schumacher hat jemals sowohl Bewunderung und Respekt erlebt, wie Pelé bis heute zuteilwird – vielleicht am ehesten Diego Maradona, wären da nicht dessen unzähligen Skandale gewesen.
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Am besten hat wohl einer seiner Nachfolger dieses Phänomen erklärt: Romario, selbst einer der besten Stürmer seiner Zeit und mit der “Selecao” 1994 Weltmeister, sagte einmal: “Ich hatte noch nie Idole. Aber da ich Brasilianer bin, bin ich wie alle anderen in diesem Land. Da wir gute Brasilianer sind, ist Pelé unser Gott, zumindest ist er meiner. Das Spiel dürfte eigentlich nicht Fußball heißen – es müsste Pelé heißen.”
Heutzutage ist es eine Glaubensfrage, in welchem Boot man sitzt, wenn es um die Frage geht, wer der beste Fußballer der Welt ist. Team Messi oder Team Ronaldo? Der kleine Dribbelkünstler aus Argentinien oder die portugiesische Maschine? “La Pulga”, der Floh oder CR7? Es gibt ebenso viele Diskussionen wie stichhaltige Argumente – für die eine wie für die andere Seite. Doch unterhält man sich mit älteren Fußballern oder mit Experten, die schon in den Sechzigerjahren das Geschehen verfolgten, gibt es keine Diskussionen mehr. Dann heißt es auf die Frage nach dem besten Kicker aller Zeiten nicht “einerseits, aber andererseits”. Dann heißt es einfach nur: Pelé.
Das wussten sie in Südamerika, wo sie ihn 1998 zum “Fußballer des 20. Jahrhunderts” kürten. Ein Jahr später wurde er dann von der Fifa zum “Weltfußballer des 20. Jahrhunderts” gewählt. Und im gleichen Jahr vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) sogar zum “Weltsportler des 20. Jahrhunderts” – und das, obwohl Pelé niemals an Olympischen Spielen teilgenommen hatte.
Pelé ist das Maß der Dinge
Auch Ferenc Puskas, der wohl beste Kicker aller Zeiten Ungarns, hatte eine Meinung zur Frage nach dem Größten der Großen. “Der beste Spieler der Geschichte war Alfredo die Stefano”, sagte er und erklärte dann: “Ich weigere mich, Pelé als Spieler zu klassifizieren. Er war darüber.”
Just Fontaine, der 1958 in Schweden so viele Tore wie noch nie ein anderer Spieler bei einer Weltmeisterschaft erzielte – nämlich 13 –, drückte seine Bewunderung wie folgt aus: “Als ich Pelé zum ersten Mal spielen sah, wollte ich meine Fußballschuhe sofort an den Nagel hängen.”
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“Vor dem Endspiel sagte ich mir immer wieder, dass Pelé auch nur ein Mensch aus Fleisch und Knochen ist. Danach erkannte ich, dass ich Unrecht hatte”: Der Brasilianer entwischt im WM-Finale von 1970 einmal mehr seinem italienischen Gegenspieler Tarcisio Burgnich.
© Quelle: Sven Simon/imago images
Und Tarcisio Burgnich, italienischer Gegner der Brasilianer im WM-Finale 1970, verriet Jahre später: “Vor dem Endspiel sagte ich mir immer wieder, dass Pelé auch nur ein Mensch aus Fleisch und Knochen ist. Danach erkannte ich, dass ich Unrecht hatte.”
Doch was machte Edson Arantes do Nascimento eigentlich so außergewöhnlich? Schaut man sich Spiele von damals an, wird schnell klar, dass es schlicht das Gesamtpaket war, was Pelés Ausnahmestellung begründete. Ein Spieler ohne Schwächen, komplett komplett. Über seine Technik, seine unfassbaren Tricks, die er sich bereits in barfüßigen Kindesjahren auf der Straße und den Schotterplätzen seiner Umgebung beibrachte, könnte man einen eigenen Film drehen oder ein ganzes Buch schreiben. Seine Schnelligkeit und Beweglichkeit waren ebenfalls einzigartig, genau wie seine Beidfüßigkeit.
Es gibt Trainer, die behaupten, dass man irgendwann einfach nicht mehr erkennen konnte, welcher der stärkere Fuß des Pelé war, weil er mit beiden machte, was er wollte. Trotz seiner lediglich 173 Zentimeter Körpergröße war er außerdem ein hervorragender Kopfballspieler. Hinzu kam eine Qualität, die ihn offensiv wie defensiv auszeichnete: Pelé konnte sofort und intuitiv erkennen, wie und in welche Richtung sich der Gegenspieler bewegen würde.
Pelé prägte seine Mannschaften
Neben seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten war und ist Pelé auch deshalb eine Legende, weil er seine gesamte Karriere nur für einen Klub spiele: den FC Santos, mit dem er in 17 Profijahren insgesamt 26 nationale und internationale Titel gewann. Erst nach seinem eigentlichen Karriereende kam er noch mal zurück und wechselte zu Cosmos New York, wo er gemeinsam mit Franz Beckenbauer spielte und ebenfalls Meister wurde. Bei den WM-Titeln 1958 und 1970 war er immer die prägende Figur seiner Mannschaften – von Anfang an. Auch 1962 wurde er mit Brasilien Weltmeister. Da hatte er sich jedoch schon im zweiten Spiel des Turniers verletzt – die Selecao schaffte den Titel in der Folge auch ohne ihren Superstar.
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Präsentiert wie ein Popstar: Pelé stellt sich als Spieler von Cosmos New York dem Blitzlichtgewitter der Fotografen.
© Quelle: imago/WEREK
Bei seinem ersten Turnier in Schweden war Pelé gerade mal 17 Jahre alt und der jüngste Spieler der WM. Im Halbfinale gegen Frankreich (5:2) erzielte er binnen 22 Minuten einen Hattrick und die gesamte Fußballwelt staunte über den leichtfüßigen Jungen aus dem brasilianischen Hinterland, der mit den gestandenen europäischen Stars Katz und Maus spielte. Pelés Ballgefühl war unerreicht, seine spielerische Leichtigkeit und Frechheit beinahe dreist.
Im Endspiel wurde der Gastgeber ebenfalls mit 5:2 bezwungen. Wiederum war Pelé der alles überragende Spieler. Von niemandem auszuschalten, krönte er seine Leistung mit zwei sehenswerten Treffern. Brasilien war erstmals Weltmeister, ein neuer Fußballgott geboren. Die ergreifenden Bilder des weinenden Pelé, der sich an Gilmars Schulter anlehnte, sind unvergessen. Innerhalb weniger Tage war der 17-Jährige zu einem Weltstar aufgestiegen und das Gesicht “des Königs” (O Rei) prangte in den nächsten Tagen und Wochen auf zahllosen Titelbildern von England bis Australien, von Russland bis nach Amerika.
Der Mann der 1000 Tore
Elf Jahre später, am 19. November 1969, wollten alle Brasilianer dabei sein, im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro. Dort trafen an diesem Abend Vasco da Gama und der FC Santos in einem eigentlich völlig belanglosen Meisterschaftsspiel gegeneinander an. Doch die Menschen waren gekommen, um ein Stück Fußballhistorie mitzuerleben – den 1000. Treffer von Pelé.
Über 80.000 Zuschauer sind dabei, Reporter aus aller Welt. Hunderte Kameras sind aufgebaut, alle Objektive auf den Nationalhelden ausgerichtet, der sich ein weiteres historisches Denkmal setzen kann. Pelé selbst ist der Wirbel unangenehm. In seiner 1977 erschienenen Biografie “My Life and the Beautiful Game”, die er während seines letzten Engagements bei Cosmos New York zusammen mit dem Autor Robert L. Fish veröffentlichte, gab er einen Einblick in seine Gefühlswelt in jenem Frühling 1969. “Für die Presse und die Fans auf der ganzen Welt war das in jedem Fall eine gute Geschichte, aber mich machte sie vor allem nervös. Ich hätte für mein Leben gern eines Morgens der Öffentlichkeit berichtet, dass ich gestern das tausendste Tor erzielte – aber es noch vor mir zu haben, und das auch noch tagtäglich von den Zeitungen und im Radio erzählt zu kommen, bedeutete eine große Belastung.”
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Ein Teenager kann es kaum fassen: Der 17-jährige Pelé vergießt Freudentränen an der Brust von Torhüter Gilmar nach Brasiliens Sieg im WM-Finale 1958 gegen Schweden.
© Quelle: imago images/Colorsport
Zu diesem Zeitpunkt hatte Pelé unzählige Rekorde bereits längst inne. 1959 erzielte er für den FC Santos in einer Saison 127 Tore, sein Karriereschnitt lag am Ende bei über 70 Treffern für seinen Verein. Seine Torquote sprengte alle Dimensionen: In weniger als 900 Spielen hatte er es bis Mitte Oktober 1969 auf 989 Treffer gebracht. In den 93 Länderspielen seiner Karriere kam Pelé auf 97 Tore – eine bis heute unerreichte Quote.
Doch auf sein 1000. Tor warteten alle wochenlang. Es schien wie ein Fluch, auch an diesem Abend in Rio. Nach einem Eigentor seines Gegenspielers Rene und einigen unglaublichen Paraden des Vasco-Torhüters dauert es bis zur 78. Minute, als Pelé im Strafraum zu Fall gebracht wird – es gibt Elfmeter.
Ich fühlte mein Herz schlagen und war froh, dass es nun endlich vorbei war.
Pelé
In seiner Biografie erinnert er sich: “Eigentlich hatte ich mir jenes Tor mit der magischen Zahl anders vorgestellt als ausgerechnet durch einen Strafstoß. Aber inzwischen war mir jede Art von Treffer recht; wenn ich es nur endlich hinter mich brachte. Ich sagte mir immer wieder, dass es ein Strafstoß wie jeder andere sei. Einen Moment lang dachte ich an einen Elfmeter, den ich in der ersten Zeit bei Santos in der Jugendmannschaft danebengeschossen hatte. Aber das war lange her. Ich verdrängte es sofort wieder. Wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann schieße ich dieses Tor eben später.”
Pelé schießt mit dem rechten Innenrist in die rechte untere Torecke. Torhüter Andrada taucht dorthin ab, erreicht den Ball aber nicht mehr. Ein wilder Aufschrei entlädt sich im Stadion. Erlösung! Pelé läuft wie von Sinnen auf das leere Tor zu, um den Ball aus dem Netz zu holen. Er greift nach dem Leder, küsst das Spielgerät, aber just in jenem Moment, als er sich mit dem Ball in der Hand umdreht und ihn jubelnd wie eine Trophäe gen Himmel reckt, brechen alle Dämme. Sekunden später ist er umringt von einem Menschenmeer an Fotografen und jubelnden Fans. Er wird in die Höhe gehoben, auf Schultern davongetragen. Nur mit Mühe kann er sich aus der Masse befreien, um dann zu seinen Mitspielern zu laufen, die ihn umarmen.
Wenig später entreißen ihm Anhänger von Vasco da Gama das Trikot und stülpen ihm ein Shirt ihres Klubs mit der Rückennummer “1000” über. Das Spiel ist noch immer unterbrochen. “Pelé, Pelé”-Sprechchöre durchfluten das Rund. Von Tränen gerührt dreht Pelé seine Ehrenrunde und lässt sich feiern. Erst in der Umkleidekabine findet die lebende Legende, mittlerweile ausgewechselt, wieder zur Ruhe. “Ich fühlte mein Herz schlagen und war froh, dass es nun endlich vorbei war.”