Nachvermessung in der Nacht: Hannovers Marathon-Strecke doch nicht zu kurz – Läufer liefen sogar einen Meter mehr
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War angespannt: Stefanie Eichel zu Beginn der Strecken-Nachvermessung in der Nacht. Sie fuhr die ganze Nacht im Polizeiwagen mit.
© Quelle: Florian Petrow
Hannover. Mitternacht am Neuen Rathaus. Kaum noch ein Auto verirrte sich auf den tagsüber so dicht befahrenen Friedrichswall. Dafür stand dort ein Polizeiwagen, zwei Fahrräder mit zentimetergenauen Kilometermessern und ein Pulk Menschen. Eine davon: Marathon-Chefin Stefanie Eichel, die nicht nur wegen der nächtlichen Kälte zitterte. Denn für sie hing von den nächsten Stunden ihr Ruf als Marathon-Veranstalterin ab, für die Gewinnerin und den Gewinner des Hannover-Marathons am 3. April die EM- und WM-Qualifikation.
Denn Hannovers Marathon-Strecke musste neu vermessen werden. Um aufzuklären: Sind die Sieger Hendrik Pfeiffer und Domenika Mayer tatsächlich durch eine Fehlleitung 88 Meter zu wenig gelaufen?
Der 75-jährige Vermesser Wolfgang Timm reiste spontan aus Hamburg an, um ihre Route auf dem Fahrrad abzufahren. Der Bremer Vermesser Herwig Renkwitz kam freiwillig dazu: Am Tag des Marathons war er Wettkampfleiter und bekam nichts von einer Fehlleitung und einer damit verbundenen Abkürzung der Marathon-Spitzengruppe mit. Ehrensache, die Angelegenheit noch einmal zu prüfen.
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Los geht es: Der Hamburger Vermesser Wolfgang Timm startete um Mitternacht am Neuen Rathaus, um die Marathon-Strecke neu zu vermessen.
© Quelle: Florian Petrow
Die Polizei Hannover gab den Männern Verkehrsschutz – und so ging es um Mitternacht am Neuen Rathaus los. „Es musste nachts passieren, wir konnten die ganze Stadt ja nicht noch einmal lahmlegen“, erklärte Eichel. „Es ist eine lebensgefährliche Situation, auf den Gegenfahrbahnen der Vahrenwalder oder Hildesheimer Straße unterwegs zu sein und zu messen.“ Ein Glück waren nicht viele Autos unterwegs.
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Zitternd: Stefanie Eichel sitzt im Polizeiwagen und betet, dass die Strecke lang genug ist. Hinter ihr fahren die Vermesser.
© Quelle: Florian Petrow
Ein riesiger Aufwand – aufgrund von 88 Metern, die erstmal nach wenig klingen, im Sport aber eine enorme Bedeutung haben: Die Spitzengruppe des Hannover-Marathons am war versehentlich über eine Halbmarathon-Strecke geleitet wurden, so liefen sie vermeintlich 88 Meter zu wenig.
Das hätte eigentlich bedeutet, dass die Sieger Hendrik Pfeiffer und Domenika Mayer die mit ihrem Marathon erlaufene EM- und WM-Qualifikation verlieren – schließlich wären sie in diesem Fall keinen ganzen Marathon gelaufen. „Es zerreißt mir das Herz für die Athleten, sie dürfen nicht unsere Organisationspanne ausbaden“, sagte die aufgelöste Eichel, die während der gesamten Aktion mit im Polizeiwagen saß – und nervös wie fast noch nie in ihrem Leben war. „Ich hatte schlaflose Nächte.“
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Vorbereitung: Stefanie Eichel prüft mit der Polizei und dem Streckenchef die Route.
© Quelle: Florian Petrow
Auf in eine weitere Nacht ohne Schlaf, in der Eichels Mann Michael Kramer versuchte, seine aufgebrachte Frau zu beruhigen. Die beiden setzten alles in Bewegung, um zu beweisen, dass die beiden Deutschen Meister trotzdem die vorgegebenen 42,195 Kilometer gelaufen sind. Denn: Die Strecke hatte einen Puffer – und durch Baustellen soll der Puffer sogar noch größer geworden sein.
Um 4:23 Uhr war die Vermessung der Hannover-Marathon-Strecke beendet
Soweit die Theorie, die aber mit Fakten untermauert werden musste. In der Nacht auf Dienstag bibberte (nicht nur wegen der Kälte) Eichel um jeden Meter – und es wurde eine Gratwanderung: Um 4:23 Uhr am Morgen bestätigte der Vermesser: „Der absolvierte Streckenverlauf beträgt 42196 Meter.“
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Daumen hoch: Um 4:23 Uhr erfahren Stefanie Eichel und Streckenchef Arne Weidtke, dass die Strecke lang genug war.
© Quelle: privat
Damit sind die betroffenen Teilnehmer des Marathons einen Meter mehr gelaufen, als sie mussten. Zwei Meter weniger und das EM- und WM-Ticket wäre wohl futsch gewesen. „Es war nicht fair, wie Domenika und Hendrik die vergangenen Tage behandelt wurden. Als hätten sie absichtlich abgekürzt“, ärgerte sich Eichel. „Wegen unseres Fehlers.“
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Für Eichel ging es um noch mehr. Um den Ruf als Marathon-Organisatoren, um Vertrauen, um einen großen Fehler und ein daraus resultierenden Debakel, der das Event zukünftig wohl überschattet hätte. Eichel: „Wir sind schlichtweg erleichtert.“ Und dann ging es erstmal ins Bett, es gab viel Schlaf nachzuholen.
Auch für den Marathon-Sieger Hendrik Pfeiffer. „Ich freue mich, endlich wieder ruhig schlafen zu können und den Erfolg zu genießen.“ Wobei er zuversichtlich war, dass die Strecke lang genug war, denn seine Tracking-Uhr hatte das bestätigt. Unruhige Tage hatte er trotzdem: „Was mich in den letzten Tagen deutlich mehr belastet hat, war die Art und Weise der Berichterstattung. Wilde Diskussionen in Foren und bei Social Media wären mir erspart geblieben.“ Denn dort wurde ihm zu Teilen sogar die Abkürzung in die Schuhe geschoben. Jetzt freut er sich auf die EM, die im Sommer in München startet. Noch einmal alles gut gegangen.
Von Josina Kelz