BDI-Präsident Russwurm: „Nicht die gesamte Russland-Politik war ein Fehler“
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Siegfried Russwurm, Präsident vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)
© Quelle: Jörg Carstensen/dpa
Berlin. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, hat im RND-Interview über die deutsche Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte gesprochen. Mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland sprach er über die Verantwortung der Wirtschaft und die Konsequenzen, die nun gezogen werden müssten – auch bei den Beziehungen zu China.
Herr Russwurm, nach zwei Pandemiejahren findet die Hannover-Messe, die wichtigste Industrieschau der Welt, wieder in Präsenz statt. Gleichzeitig leidet die Wirtschaft unter dem Krieg in der Ukraine. Überwiegen bei Ihnen derzeit Optimismus oder Pessimismus?
Wenn ich nicht Optimist wäre, wäre ich nicht Unternehmer geworden. Das gilt auch in der aktuellen Situation. Ich blicke einigermaßen zuversichtlich in die Zukunft, obwohl ich weiß, dass dieser Krieg nicht nur eine menschliche Tragödie ist, sondern auch unsere Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen stellt. Umso wichtiger ist es, dass wir die Einschränkungen der Pandemie jetzt hinter uns lassen.
+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++
Das Coronavirus ist ja nicht weg. Haben Sie keine Angst, dass die Messe zum Superspreader-Event wird?
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Menschen treffen sich jetzt wieder physisch, damit gewinnen wir ein Stück Normalität zurück. Das brauchen wir dringend. Zwar haben wir in der Pandemie alle gelernt, dass sich vieles auch aus dem Homeoffice abarbeiten lässt, aber wenn es um Kreativität und Innovation geht, führt nichts an direkten Begegnungen vorbei. Und genau deshalb habe ich so große Lust auf diese Messe.
Das Infektionsrisiko müssen wir in Kauf nehmen?
Wir sind in einer neuen Normalität. Durch die Impfungen ist die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs für die meisten Menschen inzwischen sehr gering. Aber gewisse Krankheitsrisiken gehören zu unserem Leben. Das war auch schon vor Corona so.
Warum sind Messen mit Hunderttausenden Besuchern so wichtig?
Weil in dem direkten Ideenaustausch so vieler Menschen eine ungeheure Kraft liegt. Was brauchen die Kundinnen und Kunden? Was macht der Wettbewerb? Welche Probleme gibt es? Welche technischen Lösungen? All das kann man nirgendwo auf der Welt so komprimiert und innerhalb so kurzer Zeit wie auf der Hannover-Messe erfahren. Ganz ehrlich: Ich freue mich darauf wie Bolle.
Welche Rolle wird der Krieg spielen?
Es wird eine Messe ohne Aussteller aus Russland sein. Und der Krieg ist natürlich in den Köpfen präsent. Genauso wie er in den Betrieben präsent ist. Die Mitarbeiter reden über das Leiden der ukrainischen Bevölkerung. Viele Unternehmen engagieren sich praktisch bei der Hilfe für die Menschen in der Ukraine und für Flüchtlinge von dort, die bei uns Zuflucht suchen. Und die Unternehmenslenker müssen mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges umgehen.
Wie schwer werden die sein?
Der Krieg, aber auch die globale Störung der Logistikketten schwächen das Wachstum. Die Industrie leidet unter teuren Rohstoffen und Lieferengpässen. Die Konjunkturrisiken bleiben sehr hoch. Trotzdem halten wir einen Anstieg der Exporte um 2,5 Prozent für möglich, allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: die Lieferkettenprobleme nehmen in der zweiten Jahreshälfte deutlich ab. Und es gibt kein Gasembargo. Das würde unser Wachstum abwürgen und die Wirtschaft in die Rezession schicken.
Im März haben die Industriebetriebe ihre Produktion deutlicher als zu Beginn zurückgefahren. War das eine Überreaktion?
Viele Unternehmen hatten und haben Probleme mit den Lieferketten. Es fehlen schlicht die Vorprodukte, um die Fertigung am Laufen zu halten. Andere stellen fest, dass sie wegen der massiv gestiegenen Energiepreise nicht mehr kostendeckend arbeiten. Deshalb ruht die Produktion immer häufiger – auch wenn die Auftragsbücher voll sind.
Hohe Energiesteuern kommen obendrauf
Die energieintensive Industrie leidet ja in Deutschland traditionell unter hohen Kosten. Bricht der aktuelle Preisanstieg den Unternehmen jetzt endgültig das Genick?
Die Gefahr besteht. Aber das ist kein Schicksal, sondern die Konsequenz politischer Entscheidungen. Es spielt fast keine Rolle, welchen Energieträger Sie nehmen – in Deutschland bezahlen Sie mehr als in weiten Teilen der Welt. Schuld daran sind staatliche Zuschläge, die verschiedene Bundesregierungen seit Jahren auf den Energiepreis gepackt haben. Die staatlichen Abgaben auf Strom, Öl und Gas müssen runter.
Die Streichung der EEG-Umlage Anfang Juli reicht nicht?
Das reicht bei Weitem nicht. Damit alleine werden die Unternehmen noch nicht auf wettbewerbsfähige Stromkosten kommen. Konkreter Handlungsbedarf besteht bei der Stromsteuer und den hohen Netzentgelten. Auf dem „Tag der Industrie“ im vorigen Sommer hat der damalige SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz einen Industriestrompreis von 4 Cent pro Kilowattstunde als sein „Ziel“ bezeichnet. Wir haben alle applaudiert. Jetzt ist er Bundeskanzler und sitzt am Hebel, der Industriestrompreis beträgt aber nach wie vor bis zu 18 Cent je Kilowattstunde.
Das heißt, Olaf Scholz und sein Finanzminister Christian Lindner müssen noch einmal in Klausur gehen?
Ja, und am besten gleich gemeinsam mit dem Wirtschaftsminister.
Die aktuelle Energiekrise ist Folge einer fehlgeleiteten deutschen Russland-Politik, zu der auch die deutsche Industrie mit ihrem Drängen auf den Bezug von billigem Gas beigetragen hat. Wie groß ist die Verantwortung der Wirtschaft für die Misere?
Natürlich trägt auch die deutsche Wirtschaft Verantwortung. Durch die geografische Lage war Deutschland für günstiges Pipelinegas aus Sibirien erreichbar. Diesen Wettbewerbsvorteil nicht zu nutzen wäre ökonomisch falsch gewesen.
Vielleicht wäre es auch klug gewesen. Es gab doch immer Warnungen vor einer zu großen Abhängigkeit von Russland. Zu Recht, wie wir heute wissen.
Ganz genau, das wissen wir heute, aber aus damaliger Sicht erschien das vertretbar. Niemand hatte vor Augen, dass sich ein russischer Präsident komplett von dem zivilisatorischen Minimalkonsens der Staatengemeinschaft verabschiedet. Das war ein historischer Irrtum, das räume ich ein. Deshalb war allerdings noch lange nicht die gesamte Russland-Politik der vergangenen 20 Jahre ein Fehler, wie nun viele behaupten.
Welche Lehren ziehen Sie aus der verfahrenen Situation?
Deutschland darf nie wieder so abhängig von einem Land werden. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass wir einen Stopp der russischen Gaslieferungen auch heute noch nicht verkraften könnten – da sind sich Wirtschaft und Bundesregierung einig. Unternehmen müssen ihr Beschaffungswesen viel stärker diversifizieren und auch neue Absatzmärkte erschließen. Das ist weniger kostengünstig als der Fokus auf wenige große Lieferanten und wenige große Länder. Aber es beugt einseitigen Abhängigkeiten vor.
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Die Bundesregierung hat klar Position bezogen. Das begrüße ich sehr. Für die deutsche Industrie sind Grund- und Menschenrechte selbstverständlich ein globales und unverhandelbares Gut und nie nur allein innere Angelegenheit eines Landes. Jedes Unternehmen muss im eigenen Verantwortungsbereich rote Linien ziehen, jenseits aller wirtschaftlichen Überlegungen. Denn letztlich gilt: Moral ist nicht käuflich.