Ukraine kappt Gastransport wegen „höherer Gewalt“
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Anlagen der Erdgasverdichterstation Mallnow der Gascade Gastransport GmbH. Die Verdichterstation in Mallnow nahe der deutsch-polnischen Grenze übernimmt vorwiegend russisches Erdgas.
© Quelle: Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dp
Frankfurt am Main. Jetzt ist eingetreten, was lange erwartet wurde: Der Transport von Erdgas durch die Ukraine ist bei einem Pipelinestrang unterbrochen. Unmittelbare Gefahren für die Versorgung hierzulande bestehen zwar nicht. Aber Befürchtungen über mögliche weitere Beschränkungen kursieren.
„Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist aktuell weiter gewährleistet“, sagte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums am Mittwoch. Die Lage werde genau beobachtet. „Was jetzt morgen passiert oder in einer Woche – das ist ja noch unklar“, fügte sie am Nachmittag hinzu. Man könne aus der aktuellen Entwicklung noch keine Schlüsse für die Zukunft ziehen, auch Voraussagen zu Preisentwicklungen seien nicht möglich. Nach Informationen des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) kalkuliert die Bundesregierung auch mit einer abrupten Einstellung der russischen Gaslieferungen – als Vergeltung für Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine.
Im vorliegenden Fall hat der ukrainische Gasnetzbetreiber OGTSU am Mittwoch für die Übergabestation Sochraniwka keine Aufträge für das Durchleiten von Erdgas aus Sibirien mehr angenommen. Das Unternehmen berief sich dabei auf „höhere Gewalt“. Der Standort liegt in der Ostukraine in der Region Luhansk, in der aktuell schwere Kämpfe toben. Besatzer hätten in den technischen Prozess eingegriffen und seien beteiligt an nichtautorisierten Entnahmen des Brennstoffs. Dies mache es unmöglich, die Verpflichtungen an dem Übergabepunkt zu erfüllen.
Streit zwischen Gazprom und Ukraine
Der russische Gasmonopolist Gazprom betonte hingegen, man habe keine Anhaltspunkte für Einwirkungen durch höhere Gewalt. Die Ukrainer hätten in den vergangenen Wochen ungestört in Sochraniwka arbeiten können. OGTSU teilte mit, man wolle die wegfallenden Liefermengen nun über den weiter nördlich gelegenen Übergabepunkt Sudscha umleiten. Gazprom widersprach: Das sei technisch nicht möglich. Der russische Energiekonzern ließ offen, ob der ausstehende Brennstoff über andere Rohrleitungen geliefert werden kann.
Yuriy Vitrenko, Vorstandschef des größten ukrainischen Öl- und Gasunternehmens Naftogaz, hatte bereits Anfang Mai in einem Interview mit dem RND gewarnt, dass die Transitpipeline in Gefahr gerate, wenn die russische Armee Angriffe auf die Infrastruktur seines Landes fortsetze.
Gazprom bestätigte, dass Mittwoch nur 72 Millionen Kubikmeter durch die Ukraine geliefert werden konnten. Am Vortag waren es noch knapp 96 Millionen Kubikmeter gewesen. Offen ist, ob der Transport über Sochraniwka wieder aufgenommen werden kann. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges vor zweieinhalb Monaten gab es keinerlei Einschränkungen beim Transport des Brennstoffs durch die Ukraine.
Beiderseits besteht ein Interesse am Gasfluss. Die Ukraine braucht ihn einerseits für die eigene Bevölkerung. Und sie erhält Durchleitungsgebühren von Russland. Gazprom erzielt mit dem Export des leicht flüchtigen Stoffs in die EU enorme Einnahmen. Nach Berechnungen der Brüsseler Denkfabrik Bruegel lagen sie im März bei 660 Millionen Euro pro Tag.
DIW-Studie: Verzicht auf russisches Gas im Winter möglich
Der Anteil russischer Lieferungen beim Gas ist inzwischen auf gut 40 Prozent gesunken – nach zuvor etwa 55 Prozent.
© Quelle: dpa
Der russische Monopolist betonte erneut, dass man alle Lieferverpflichtungen gegenüber den europäischen Kunden erfüllen werde. Nach Bruegel-Daten hat der Gaskonzern insbesondere über die Nord-Stream-Pipeline kontinuierlich geliefert. Durch die Ostsee wird der weitaus größte Anteil der Exporte gepumpt. Deutlich schwankender war bereits vor dem Sochraniwka-Vorfall die Belieferung über die Ukraine. Kleine Mengen werden überdies über die Jamal-Pipeline, die durch Polen und Belarus verläuft, und durch die Turkstream-Leitung transportiert.
Börsenpreis für Erdgas schießt in die Höhe
Insgesamt liegen die russischen Exporte in die EU inzwischen deutlich unter dem Vorjahr. Dass die Einfuhren alles in allem inzwischen dennoch über dem Vorjahr liegen und sich dem durchschnittlichen Maximalwert für die Jahre 2015 bis 2020 nähern, hat seine Ursache in erheblich gesteigerten Einfuhren von verflüssigtem Erdgas (LNG). Viele Betreiber von Gasspeichern decken sich schon jetzt für den kommenden Winter ein – sie erwarten, dass die ohnehin schon hohen Preise noch weiter steigen werden. Der teure Brennstoff führt aber zugleich dazu, dass Industrieunternehmen und Kraftwerksbetreiber ihren Gasverbrauch reduzieren, und schließlich führt das gute Wetter überall in Europa dazu, dass kaum noch geheizt wird.
Wie nervös die gesamte Energiebranche derzeit ist, lässt sich an der Notierung für europäisches Gas am Mittwochmorgen ablesen. Sie schoss in die Höhe und kostete zeitweise 103 Euro pro Megawattstunde. Hintergrund ist die Vermutung, dass die Stilllegung der Übergabestation der Anfang von weiteren Einschränkungen sein könnte. Im Handelsverlauf gab der Preis für die Referenzsorte Dutch TTF zur Lieferung im Juni aber deutlich nach. Die Megawattstunde kostete am Nachmittag noch 95 Euro. Vor einem Jahr waren es allerdings nur knapp 20 Euro gewesen.
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