Warum steigen Kurse in der Krise?
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Am frühen Freitagnachmittag stieg der Dax über den alten Höchststand von 16.290 Punkten.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Seit Monaten steigt der Deutsche Aktienindex (Dax), obwohl die Wirtschaftsaussichten trübe sind. Am Freitag hat er mit mehr als 16.330 Punkten sogar den höchsten Stand seiner Geschichte erreicht. Halten konnte er sich dort allerdings nicht, zum Börsenschluss stand er mit 16.275 Punkten wieder knapp unter dem alten Rekord. Viele Profis hatten jedoch mit einem schwachen Aktienjahr gerechnet. Wir erklären, warum es bisher anders gekommen ist – und wie es weitergehen könnte.
Wie hat sich der Aktienmarkt zuletzt entwickelt?
In den vergangenen gut drei Jahren hat die Börse zwei Crashs und zwei schnelle Erholungen erlebt. Anfang 2020 ließ die Pandemie den Dax von knapp 14.000 auf 9000 Punkte rutschen. Er verlor damit ein Drittel seines Werts in gut einem Monat. Aber die Verluste waren Ende des Jahres schon wieder ausgeglichen, und ein weiteres Jahr später erreichte der Dax einen Rekordstand von 16.290 Punkten. Von dort ging es allerdings wieder deutlich abwärts, denn die Inflation erschien auf der Bildfläche, und die Konjunkturaussichten trübten sich ein.
Dann griff Russland die Ukraine an – und der Dax fiel in mehreren Schüben von 15.300 Punkten auf 12.000 im Oktober 2022. Seitdem geht es mit kurzen Unterbrechungen aufwärts bis zum Rekord am Freitag. Wer auf dem Tiefpunkt Anfang Oktober eingestiegen ist, hat innerhalb von sieben Monaten eine Rendite von rund 30 Prozent eingefahren.
Warum erholt sich der Markt so schnell?
In der Pandemie spielten die staatlichen Hilfsprogramme eine wichtige Rolle. Die riesigen Zahlungen der Regierungen stabilisierten die Wirtschaft und verhinderten das Schlimmste. Außerdem führte die Krise dazu, dass die Notenbanken bei ihrer lockeren Geldpolitik blieben – nachdem vorher eigentlich schon eine Zinswende erwartet worden war. So aber blieben die Zinsen extrem niedrig, und das treibt tendenziell die Aktienkurse.
Die Folgen des Ukraine-Kriegs sind komplizierter, weil Energiepreise nach oben schossen, in der Folge die Inflation stieg und die Notenbanken mit Zinserhöhungen dagegen angehen mussten. Dennoch haben sich die Kurse erneut erholt. Ein Schlüsselmoment war, als China sich um den Jahreswechsel von seiner Null-Covid-Strategie verabschiedete und die Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung lockerte. Seitdem erholt sich die Wirtschaft dort.
Außerdem machte sich Erleichterung breit, als nicht jedes ökonomische Katastrophenszenario wahr wurde. In den USA wirkte sich vor allem die Renaissace der Techunternehmen aus. Und schließlich gilt trotz gestiegener Zinsen: Wenn die Inflationsrate höher ist als der Zins, schmilzt der Wert auf einem Zinskonto trotzdem – und Aktien bleiben attraktiv.
Nach dem Kursrutsch waren viele Aktien vergleichsweise billig. Der Anstieg danach sei „fundamental begründet“, schreibt Sven Streibel von der DZ Bank in einer Analyse. „Schließlich gab und gibt es eine Menge Nachholbedarf nach der Erosion der Kurse im Jahr 2022.“
Ist der Trend überall auf der Welt gleich?
Die internationalen Märkte folgen zum großen Teil den gleichen Trends und reagieren aufeinander. Der europäische Markt hat sich in den vergangenen Monaten aber besser entwickelt als der amerikanische. Das liegt vor allem daran, dass die US-Notenbank Fed früher als die EZB mit den Zinserhöhungen begonnen hat, was die Kurse bremste. Später schlug der Zusammenbruch mehrerer Regionalbanken dort stärker auf die Kurse durch. Auch der Streit zwischen Demokraten und Republikanern um die Anhebung der Schuldengrenze wird in den USA nervöser verfolgt.
Auch an den asiatischen Börsen wirken regionale Einflüsse. In China stiegen die Kurse stark, als sich die Lockerung der Corona-Maßnahmen andeutete. Danach ging es aber auch wieder abwärts. Der japanische Nikkei-Index hat seit Anfang April überdurchschnittlich zugelegt, weil die Wirtschaft sich belebt, die Notenbank aber trotzdem nicht nennenswert von ihrer ultralockeren Geldpolitik abrückt.
Vergleicht man die letzten sechs Monate, liegt Europa vorn. Gegenüber dem November 2022 haben Dax und Eurostoxx rund 13 Prozent an Wert gewonnen, beim japanischen Nikkei und dem Hang Seng in Hongkong waren es 10 Prozent, beim US-Index S&P 500 aber nur gut 6 Prozent. Allerdings spielen auch die Branchen eine Rolle: Der Index der US-Technologiebörse Nasdaq kletterte um rund 13 Prozent.
Was ist am Dax besonders?
Aktienindizes werden gern „Kursbarometer“ genannt, aber beim Dax ist das nur die halbe Wahrheit. Er ist ein sogenannter Performance-Index, soll also zeigen, was Anlegerinnen und Anleger insgesamt an Aktien verdienen – und dazu gehört auch die Dividende. Deshalb werden in den deutschen Index die Gewinnausschüttungen der Unternehmen eingerechnet.
Sie haben viel zum Dax-Anstieg beigetragen. Der Dax wird auch als reiner Kursindex – ohne Einfluss der Dividenden – berechnet und liegt dann noch ein gutes Stück unter seinem Rekordwert. Dieser Dax Kursindex steht aktuell bei 6450 Punkten, der Höchststand waren 6883 Punkte im Dezember 2021.
Die großen US-Indizes Dow Jones und S&P 500 gibt es ebenfalls in beiden Varianten. Gebräuchlich sind dort aber die reinen Kursindizes ohne Einfluss der Dividende – der Vergleich mit dem Dax hinkt also immer ein wenig. Als Performance-Index tragen beide den Zusatz „Total Return Index“.
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Der Kaufmann Gregory Rowe arbeitet an der Wertpapierbörse New York Stock Exchange.
© Quelle: Richard Drew/AP/dpa
Wie agieren jetzt die Profis?
Viele Großanleger sind vom starken Start ins Jahr überrascht worden. Sie hatten sich wegen der hohen Inflation und schnell steigender Zinsen auf ein schwieriges Jahr eingestellt. Geld wurde in Anleihen umgeschichtet oder für günstige Gelegenheiten – also einen vorübergehenden Kursrutsch – bereitgehalten. Zum Teil haben sie auch mit sogenannten Short-Wetten auf einen solchen Kursrutsch gesetzt.
Der hartnäckige Anstieg bringt nun manche in die Bredouille. Sollen sie noch auf den Zug aufspringen, um in einer weiteren Rally nicht abgehängt zu werden? Müssen sie womöglich schnell Papiere kaufen, um hohe Verluste aus ihren Short-Wetten zu verhindern? Solche Erwägungen können kurzfristig zu weiter steigenden Kursen führen – während die Skeptiker täglich auf die Korrektur warten.
Mike Wilson, Anlagechef der US-Investmentchef Morgan Stanley, berichtete in einem Podcast jüngst von einer Rundreise zu großen Kunden – und von sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Die Mehrheit der Kunden sei inzwischen der Meinung, dass der Bärenmarkt – also ein anhaltender Abwärtstrend der Kurse – im vergangenen Oktober bereits zu Ende gegangen sei. Sie rechneten mit einer milden Rezession in den USA, die an den Aktien ohne große Schäden vorbeigehen könne. Allerdings seien sie unsicher und wählten vor allem defensive Aktien.
Wilson und seine Leute halten das trotzdem für „eine sehr anspruchsvolle taktische Ausrichtung“. Sie sehen die Markterholung bisher nur als eine Unterbrechung des Abwärtstrends, „der Bärenmarkt ist noch nicht vollendet“. Gemessen an dem drohenden konjunkturellen Rückschlag seien die Bewertungen auf breiter Front recht hoch.
Wovon hängt die weitere Entwicklung ab?
Von kurzfristigen Faktoren – zum Beispiel fehlgeschlagenen Short-Wetten – abgesehen, bewegt sich alles im Dreieck Konjunktur, Inflation und Zinsen. Das Idealszenario ist eine „sanfte Landung“: Die Wirtschaftsentwicklung schwächt sich so weit ab, dass die Inflation nachlässt und keine Zinserhöhungen mehr nötig sind – aber nicht so weit, dass es zu einer ausgewachsenen Rezession käme.
Das Negativszenario: Die Inflation ist so hartnäckig, dass die Notenbanken die Zinsen noch weiter als bisher erwartet erhöhen müssen – und damit die Wirtschaft selbst in die Rezession schicken. Die Pessimisten unter den Fachleuten erwarten, dass das in den USA schon auf dem jetzigen Zinsniveau passieren wird.
Die Gefahr: Ein und dieselbe Nachricht kann für den Aktienmarkt gleichzeitig gut und schlecht sein. So bedeutet stagnierende Wirtschaft Probleme für die Unternehmen, aber auch Entspannung bei der Inflation und damit der Zinshöhe. Welchen Effekt der Markt am Tag der Nachricht wichtiger nimmt, ist gerade für Kleinanleger nicht leicht einzuschätzen.
Fundamental wichtig ist die Entwicklung der Unternehmensgewinne, denn von ihrer Höhe hängt maßgeblich die Bewertung einer Aktie ab. In den Zwischenbilanzen zum ersten Quartal gab es zwar viele Gewinnrückgänge, aber keine Enttäuschung auf breiter Front. Entscheidend wird nun sein, ob die Unternehmen ihre Prognosen für den Rest des Jahres einhalten können. Morgan Stanley gehört auch hier zu den Pessimisten: Im Gegensatz zu seinen Kunden sei er der Meinung, dass die Gewinnmargen der Unternehmen noch weiter schrumpfen werden, sagte Mike Wilson.
Was werden die Notenbanken tun?
Fed und EZB betonen, dass sie „datenbasiert“ entscheiden. Das heißt: Es wird in jeder Zinssitzung aktuell anhand der dann vorliegenden Information über den Zustand von Wirtschaft und Finanzmarkt entschieden. Was selbstverständlich klingt, ist für die professionellen Notenbankbeobachter – „Watcher“ genannt – eine echte Herausforderung: Sie suchen stets nach Handlungsmustern und versteckten Ankündigungen, um künftige Zinsentscheidungen voraussagen und Anlagestrategien darauf ausrichten zu können.
Das Problem ist, dass Geldpolitik mit erheblicher Verzögerung wirkt und auch die aktuellsten Daten nur eine sehr wacklige Grundlage sind. „Historisch hat es im Durchschnitt etwa zweieinhalb Jahre nach der ersten Zinserhöhung der Fed gedauert, bis eine Rezession einsetzte“, sagt etwa Andrew Pease, Chef der Investmentstrategie bei Russell Investments. Die Fed stehe deshalb vor einer „Mammutaufgabe“, eine weiche Landung zu erreichen.
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Nach Meinung vieler Experten könnte der jüngste Zinsschritt der Fed der vorerst letzte gewesen sein. Manche erwarten sogar die ersten Senkungen noch in diesem Jahr, weil die Fed auf eine Rezession werde reagieren müssen. Bei der EZB rechnen viele mit zwei weiteren kleinen Erhöhungen im Juni und Juli. Allerdings könnte es sein, dass die Anleger zu optimistisch sind: Beide Notenbanken, vor allem aber die EZB, bemühen sich, die Hoffnungen auf ein Ende der Zinserhöhungen zu dämpfen. Immer wieder betonen sie, dass so lange an der Schraube gedreht werde, bis die Inflation im Griff sei.
Wie sehen die Prognosen aus?
Das Spiel einer Dax-Prognose zum Jahresende haben die Analysten nie geliebt – jetzt hassen sie es. Manche wagen es trotzdem, zum Beispiel die DZ Bank: Sie hat ihr Jahresendziel für den Dax gerade auf 16.500 Punkte erhöht, für den S&P 500 dagegen leicht auf 4300 Punkte gesenkt – aktuell steht er bei knapp 4200. Allerdings warnt Analyst Sven Streibel vor Turbulenzen auf dem Weg dahin: Im Fall einer US-Rezession könne der Dax „temporär bis auf 14.500 Punkte fallen“. Unterm Strich wäre das für Streibel aber „ein Ende mit mildem Schrecken“ und brächte endlich Klarheit.
Oliver Scharping vom Asset Manager Bantleon sieht zwar „überwiegend positive Nachrichten aus der aktuellen Berichtssaison“, aber auch „erste dunkle Wolken“. Die Frühindikatoren von Bantleon, die in der Vergangenheit recht verlässlich waren, sagten schon für das nächste Quartal eine Abschwächung des privaten Konsums voraus. „Spätestens dann werden auch die breiten Aktienindizes deutlich nachgeben.“