Wie Erwartungen anderer unser Verhalten beeinflussen und Studien verfälschen
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Die Erwartungshaltung des Unterrichtenden kann die Leistung von Schülerinnen und Schülern beeinflussen.
© Quelle: Daniel Reinhardt
Pygmalion war eine Figur der griechischen Mythologie. Im echten Leben von den Frauen enttäuscht, wollte sich Pygmalion nur noch der Bildhauerei widmen. Dabei erschuf der Künstler wie aus Versehen eine Elfenbeinstatue – ganz nach seiner inneren Vorstellung von einer perfekten Frau. Die Liebesgöttin Aphrodite erweckte diese Statue auf Pygmalions Bitten hin zum Leben: Sein Wunschbild war Wirklichkeit geworden.
In der Wissenschaft bezeichnet man mit dem Pygmalion-Effekt das Phänomen, dass die (meist unbewusste) Vorstellung, die wir von etwas haben, zur Wirklichkeit wird. Nachgewiesen wurde der Pygmalion-Effekt erstmals in einem Experiment der amerikanischen Psychologen Robert Rosenthal und Leonore Jacobson, weshalb er synonym auch teilweise Rosenthal-Effekt genannt wird.
Die beiden Forschenden hatten 1965 untersucht, wie sich die Erwartungshaltung von Unterrichtenden auf die Leistung ihrer Schüler und Schülerinnen auswirkte. Sie hatten dazu den Lehrenden an zwei amerikanischen Schulen vorgetäuscht, durch einen Test hätten sie die 20 Prozent der Kinder identifiziert, die kurz vor einem intellektuellen Entwicklungsschub ständen. Insgeheim wurden diese 20 Prozent der Kinder jedoch willkürlich ausgewählt. Nach einem Jahr hatten sich die Leistungen der Kinder, die angeblich bald in besonderer Weise „aufblühen“ sollten, tatsächlich verbessert. 45 Prozent von ihnen schnitten in IQ-Tests um 20 oder mehr Punkte besser ab. 20 Prozent von ihnen konnten sich in einem IQ-Test sogar um 30 oder mehr Punkte steigern.
Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung
Die Erklärung: Die Unterrichtenden hatten die vermeintlich begabteren Kinder in besonderer Weise gefördert – so sehr, dass sich diese tatsächlich verbesserten und der Erwartungshaltung ihrer Lehrer und Lehrerinnen schließlich gerecht wurden. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung also. Interessanterweise ließ sich der gleiche Effekt sogar bei Laborratten nachweisen, was bedeutet, dass er den Ausgang sämtlicher wissenschaftlicher Studien durchaus verfälschen könnte.
Rosenthal hatte für ein weiteres berühmt gewordenes Experiment zwölf studentische Hilfskräfte als Versuchsleiter und Versuchsleiterinnen geschult. Diese sollten 60 Albinoratten in einer festgelegten Anzahl von Trainingsläufen beibringen, möglichst schnell ein Labyrinth zu durchqueren. Der einen Hälfte der Studierenden wurde vorab gesagt, dass ihre Versuchstiere besonders klug seien, dies sei bereits zuvor festgestellt worden. Der anderen Hälfte hingegen wurde gesagt, ihre Ratten seien besonders dumm. In Wirklichkeit waren die Ratten einfach nach dem Zufallsprinzip in Gruppen eingeteilt worden.
Nach Abschluss des „Trainings“ mit den Ratten zeigt sich das Gleiche wie schon im Schulexperiment bei den Kindern: Die vermeintlich „schlauen“ weißen Ratten schnitten besonders gut ab und durchquerten das Labyrinth schneller als ihre angeblich dümmeren Artgenossen, obwohl diese genauso oft trainiert hatten. Rosenthal befragte die Studierenden im Anschluss an die Tests zu ihrer Vorgehensweise. Danach kam er zu dem Schluss, dass die Studierenden die angeblich schlauen Ratten besser und liebevoller behandelt hatten und ihnen wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit zukommen ließen. Schon allein dadurch müsse sich deren Performance verbessert haben.
Verhaltensänderung, wenn wir beobachtet werden
Der Pygmalion- oder Rosenthal-Effekt ist von anderen verwandten Phänomenen abzugrenzen. So führt die Erwartungshaltung, dass ein Medikament oder eine medizinische Behandlung wirkt, zum sogenannten Placebo-Effekt. Eine Verbesserung der Symptome tritt oft selbst dann ein, wenn mit einem wirkstofflosen Scheinmedikament behandelt wird. Da Tiere eine solche Erwartungshaltung nicht empfinden, erscheint es zunächst rätselhaft, dass auch bei Tieren wirkstofflose Medikamente Wirkung zeigen können. Hier liefert der Pygmalion-Effekt die Erklärung: Tierhalter und Tierhalterinnen, die um ihr Haustier besorgt sind, behandeln es in der Regel aufmerksamer, was zur Verbesserung von Symptomen beitragen kann.
Ein weiteres Phänomen wurde als Kluger-Hans-Effekt bekannt: Gemeint ist die Reaktion auf subtile, dem Versuchsleiter oder der Versuchsleiterin selbst nicht bewusste Signale. Der kluge Hans galt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als erstes Pferd, das angeblich rechnen konnte. Sein Besitzer, ein Mathelehrer, hatte es ihm beigebracht – das glaubten die Menschen zumindest. Wurden Hans auf einer Tafel Rechenaufgaben gestellt, antwortete er stets mit einer korrekten Anzahl von Hufschlägen.
Wie sich später herausstellte, hatte Hans aber nur auf die Körperhaltung desjenigen reagiert, der ihm die Aufgaben stellte. War die korrekte Anzahl an Hufschlägen erreicht, konnte Hans das offenbar an feinsten, der Person selbst unbewussten Körpersignalen realisieren. Eine solche Wechselwirkung ist auch bei menschlichen Versuchsteilnehmenden nicht auszuschließen.
Hawthorne-Effekt nennt man hingegen eine Verhaltensänderung von Versuchsteilnehmenden, die allein durch das Bewusstsein zustande kommt, unter Beobachtung zu stehen, und zwar selbst dann, wenn es gar keine Vorgabe gibt, eine besondere Leistung zu erfüllen. Der Name geht auf ein Experiment aus den 1920er-Jahren zurück, das in den Hawthorne-Werken durchgeführt wurde, einer Fabrik für Telekommunikationstechnologie.
Deren Beschäftige wurden in zwei Gruppen eingeteilt, wobei die eine davon bei verbesserten Lichtverhältnissen arbeiten sollte. Die Leistungen dieser Gruppe verbesserten sich dadurch tatsächlich. Ebenso war aber auch die Gruppe, die bei unveränderten Lichtverhältnissen weiter arbeitete, plötzlich produktiver als vorher. Erklären ließ sich das dadurch, dass die Beschäftigten bewusst oder unbewusst intensiver gearbeitet hatten, weil sie unter Beobachtung standen. Verhaltensforscherinnen und ‑forscher gehen davon aus, dass Versuchsteilnehmende generell versuchen, eine Aufgabe möglichst gut zu erfüllen und daher vielleicht „bessere“ Leistungen erzielen, als sie es im Alltag tun würden.
Eigene Erwartungshaltung ist wichtig
Nicht nur die tatsächlichen oder empfundenen Erwartungen von außen können übrigens die eigene Leistung beeinflussen, sondern auch die Erwartungshaltung an sich selbst, die allerdings oft damit zusammenhängt. So kann eine positive Erwartungshaltung von Versuchsleitenden oder Vorgesetzten dazu führen, dass sich auch die Erwartung an einen selbst und dadurch die eigene Leistung verbessert, was man als Galatea-Effekt bezeichnet. Umgekehrt führt eine negative Erwartungshaltung von Versuchsleitenden oder Vorgesetzten leicht zu einer negativen Erwartungshaltung gegenüber sich selbst, die auch zu schlechteren Leistungen führen kann; dies wird als Golem-Effekt bezeichnet.
In der wissenschaftlichen Forschung wird versucht, all diese Einflussfaktoren möglichst gering zu halten. Der Goldstandard sind daher in der medizinischen Forschung „doppelverblindete“ und placebokontrollierte Studien. Dabei wissen weder die Teilnehmenden noch diejenigen, die ihnen ein Medikament verabreichen, ob es sich um ein echtes Arzneimittel oder ein wirkstoffloses Scheinmedikament handelt. Und in verhaltenspsychologischen Studien wird den Teilnehmenden zum Teil erst im Nachhinein bekannt gegeben, was das konkrete Studienziel ist, damit ihr Verhalten möglichst unverfälscht bleibt.
Im echten Leben ist so etwas nicht möglich. Das Bild, das andere von uns und unseren Fähigkeiten haben, kann unser Verhalten und unsere Leistungen beeinflussen, das Gleiche gilt für positive und negative Erwartungshaltungen an uns selbst. Die Erfahrung einer schlechten, „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ hat daher wohl jeder schon einmal gemacht. Die gute Nachricht: Wer es schafft, Vertrauen in sich selbst zu haben, dem wird vieles tatsächlich leichter fallen. Das gelingt zwar nicht von heute auf morgen, lässt sich aber erlernen.