Ein weiteres Kind nach einer postpartalen Depression? Ulrike hat sich getraut
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Wenn Mütter an einer postpartalen Depression leiden, erleben sie die negativen Dinge intensiver.
© Quelle: Africa Studio - stock.adobe.com
Bist du verrückt? Wieso denn noch ein Kind? Baby Felix gluckst und greift nach den Haaren seiner Mama. Dass es ihn gibt, ist nicht verrückt – wohl aber mutig. Seine Mama Ulrike Schrimpf (40) erkrankte nach der Geburt von Felix’ großem Bruder Michael (5) an einer postpartalen Depression. Es traf sie so schwer, dass sie zeitweise nicht sicher war, ob sie weiterleben wollte. Und trotzdem hat sie es noch einmal gewagt: Sie hat ein drittes Kind bekommen, Felix. Er ist jetzt sieben Monate alt.
Das Schreiben hat Ulrike aus dem Tal geholfen
In ihrer Wohnung hängen Bilder von Zara, Ulrikes Kinderbuch-Heldin. Zara, die fiktive Hauptfigur, hat Ulrike rausgeholt aus der Krise, die sie als „einen der schlimmsten Zustände, die einer Mutter widerfahren können“ bezeichnet. Als sie in der Psychiatrie lag, hatte ihr erster Sohn Johannes, 10, sie gebeten, ihm eine Geschichte zu schreiben – und beim Verfassen empfand Ulrike zum ersten Mal wieder so etwas wie Freude. Ablenkung. Selbstheilung. Seither arbeitet sie als Autorin. Neben den drei Zara-Romanen für Kinder hat sie ein eindrucksvolles Buch über ihre Erkrankung geschrieben: „Wie kann ich dich halten, wenn ich selbst zerbreche?“
60 Prozent der Frauen, die zu mir kommen, sind Akademikerinnen zwischen 30 und 40 Jahren.
Claudia Reiner-Lawugger, Ärztin
Die Geister kamen meist nachts. „Meine Nächte sind grellweiß, Zwangsgespenster“, schreibt Ulrike in ihrem Buch. „Ich zittere, meine Zähne klappern. Meine Haare und mein Gesicht sind schweißnass. Die Angst schüttelt mich. Mir wird schlecht. Mein Sohn wacht auf, er saugt entschlossen und tapfer – er rührt mich so tief! Meine Tränen tropfen auf sein Gesicht, seine Ärmchen, seinen weichen Haarflaum. Plötzlich weiß ich: Nichts ist gut. Ich brauche Hilfe!“
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Ulrike Schrimpf hatte sich immer drei Kinder gewünscht.
© Quelle: Natascha Unkart
Es war November, als Ulrike ihr zweites Kind bekam, draußen war es kalt, dunkel, frostig. In ihr drin auch. Anders als andere Mütter entwickelte Ulrike in ihrer Krankheit keine Bindungsstörung zu ihrem Kind. Ein gängiges Vorurteil ist, dass Mütter mit einer postpartalen Depression ihre Kinder nicht lieben können. De facto betrifft das aber nur 30 Prozent der Mütter, die erkranken. Bei Ulrike war es eher das Gegenteil. Sie liebte ihr Kind so sehr, dass sie irrationale Sorgen entwickelte.
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„Aber du wolltest das Kind doch“
Ulrike hatte Angst. Angst, ihren Kindern keine gute Mutter zu sein. Angst, ihre Beziehung zu ruinieren. Angst, nie mehr etwas Herausforderndes, Interessantes in ihrem Leben zu machen. Sie hatte Angst vor dem Schlafen und Angst vor dem Leben. Sie traute sich nicht mehr, mit Baby im Arm die Treppe runterzugehen, also ließ sie sich im Sitzen Stufe für Stufe hinabgleiten. „Du und depressiv? Da lachen ja die Hühner“, hatte ihre Zwillingsschwester am Telefon gesagt. Niemand hätte damit gerechnet. Vor allem nicht sie selbst.
„Aber du wolltest das Kind doch“, hieß es. Eben. Und trotzdem ging es ihr nicht gut. Wie eine Naturgewalt brach die Krankheit über sie herein. Ihr zweites Kind war zehn Wochen alt, als sich Ulrike einweisen ließ. Sie hatte Schlafstörungen, Herzrasen, Panikattacken, Schweißausbrüche. Und sie hatte Schuldgefühle. Was bin ich nur für eine Mutter?
Nach vier Monaten: ein Rückfall
Drei Wochen verbrachte sie in der Klinik. „In einer Depression erlebt man die negativen Dinge intensiver, die positiven nimmt man gar nicht mehr wahr“, sagt Ulrike. Doch die Behandlung half ihr. Bald wurde sie entlassen. Nach vier Monaten: ein Rückfall. Heftig, aber kurz. Was sie da noch nicht wusste: Der Heilungsprozess einer Depression verläuft nicht linear, sondern eher so, wie sich ein Delfin im Wasser bewegt. In Kurven nach oben. Nach dem Rückfall ging es endgültig bergauf.
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Die Geburt eines Kindes ist ein Ereignis, das zu sogenannten Schwellenerlebnissen im Leben eines Menschen gehört, in denen Abschied und Neubeginn ineinandergreifen. Etwa 19 Prozent aller Mütter entwickeln nach der Geburt depressive Symptome, 7 Prozent von ihnen bekommen eine schwere, behandlungsbedürftige Depression. Meist erkranken Frauen sechs bis acht Wochen nach der Geburt.
Ein Symptom alleine führt nicht zur Depression
„60 Prozent der Frauen, die zu mir kommen, sind Akademikerinnen zwischen 30 und 40 Jahren“, sagt Dr. Claudia Reiner-Lawugger. Die Ärztin leitet seit 15 Jahren die Spezialambulanz für perinatale Psychiatrie in Wien. Frauen wie Ulrike. Nachdem sie jahrelang ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben geführt haben, sitzen sie plötzlich mit ihrem Baby in einer Wohnung weit weg von ihrem Büro und den Freunden. Nichts ist mehr geordnet und verlässlich, wie sie es kennen. „Für mich war am anstrengendsten, dass ich mich für alles verantwortlich fühlte, für jede Missstimmung und jeden Konflikt“, sagt Ulrike. Aber nicht ein Symptom allein führt zur Depression. Bei Ulrike kamen mehrere Dinge hinzu. Eine gescheiterte Beziehung – die zum Vater ihres ersten Sohnes. Ein Umzug von Berlin nach Wien. Eine Fehlgeburt. Die Erkrankung ihres Vaters.
Ich wollte noch ein Baby. Aber ich wollte nie wieder an einer Depression erkranken.
Ulrike Schrimpf
Die Heilungschancen bei einer postpartalen Depression sind groß, wenn sich Frauen helfen lassen. Schon drei bis vier Wochen nach Behandlungsbeginn tritt in den meisten Fällen eine enorme Verbesserung ein, sagt die Ärztin. So war es auch bei Ulrike. Sie wurde psychotherapeutisch begleitet und bekam Antidepressiva.
Sollte sie aus Furcht vor der Krise auf weitere Kinder verzichten?
Ulrike hatte sich immer drei Kinder gewünscht. Mit jedem Tag, der seit der Krankheit verging, rückte der Kinderwunsch näher an Ulrike heran. „Mit der Krankheit ist es wie mit einer Geburt. Je länger sie zurückliegt, desto mehr verdrängt man den Schmerz.“ Ihr Mann war nicht direkt überzeugt von der Idee eines dritten Kindes: „Es ist doch gerade alles so schön, wie es ist“, sagte er.
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Sollte sie auf weitere Kinder verzichten, aus Furcht, sie könnte mal wieder in eine Krise stürzen? Ulrike spürte: Sie würde es immer bereuen, kein drittes Kind bekommen zu haben. „Ich wollte noch ein Baby. Aber ich wollte nie wieder an einer Depression erkranken“, sagt Ulrike. Ihre Ärztin sagte: „Dann setz die Antidepressiva erst gar nicht ab.“ Ulrike nahm weiter Medikamente, gering dosiert, aber dennoch. Nicht absetzen? Auch in der Schwangerschaft nicht? Dr. Reiner-Lawugger sagt: „Es gibt Antidepressiva, die auch in der Schwangerschaft und Stillzeit eingenommen werden können.“
Die Medikamente helfen
Ulrike hielt sich an ihren Rat und nimmt auch heute noch Antidepressiva, wenn auch gering dosiert: „Bei einer Herzkrankheit sagt ja auch keiner, geh einfach mal an die frische Luft.“ Sie erinnert sich noch, wie ihr die Medikamente damals geholfen hatten, wie langsam die alte Ulrike zurückkam.
„Ich war lebensmüde, ich wollte so nicht weiterleben. Das war ein traumatisches Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ich hatte keine Gedanken, wie ich konkret meinem Leben ein Ende setzen kann. Aber da war das passive Gefühl, wie praktisch es doch wäre, wenn jetzt ein Auto käme, dann wäre der Schmerz vorbei.“
Wenn Ulrike jetzt darüber spricht, kann sie das nicht mehr nachvollziehen. „Weil ich mein Leben jetzt so toll finde.“ Sie muss daran denken, wie ihre Ärztin während ihrer Krankheit zu ihrem Mann gesagt hatte: „Sie können diese Krankheit nicht verstehen.“
„Huch, mir geht es ja gut“
Ulrike wurde mit dem dritten Kind schwanger, als die Krankheit vier Jahre zurücklag. Im vierten Monat bekam sie eine Panikattacke. „Da lag ich wach und dachte: Wie konnte ich nur vergessen, wie schrecklich sich das anfühlt? Das schaff ich nicht noch mal.“ Sosehr sie sich ein Kind wünschte – sie fragte sich, wieso sie das Schicksal noch einmal herausfordern musste.
Zwei Wochen lang dauerte dieser Zustand an, dann legten sich die Sorgen wieder. Bis zur Geburt blieb es ruhig. Dann kam Felix. Sein Name bedeutet „der Glückliche“. In der ersten Nacht nach der Entbindung schlief Ulrike nicht gut. Da war kurz die Angst, sich wieder reinzuschrauben in den düsteren Teufelskreis. Aber gleichzeitig traute Ulrike sich, darauf zu vertrauen, dass alles gut werden wird. Und es wurde gut.
In den ersten vier Lebensmonaten wunderte sie sich oft: Huch, mir geht es ja gut. Seitdem hat sie das Vertrauen, dass es nicht noch mal passieren wird. Und es passierte nicht wieder. Nach Felix’ Geburt blieb Ulrike gesund.
Ich würde mich immer wieder für Felix entscheiden.
Ulrike Schrimpf
Die Psychiatrie: Ort der Angst - und der Rettung
Felix lacht durch das Babyphon. Ulrike holt ihn aus dem Vormittagsschlaf, er trägt eine Sternchenstrumpfhose. Wir essen Croissants und Topfengolatschen (Blätterteig-Quarktaschen). Ulrike steht kurz auf und kratzt eine grüne Glibberhand von der Tapete. Sie lacht. „Meine Jungs!“ Dann brechen wir auf zur Spezialambulanz von Claudia Reiner-Lawugger. Unregelmäßig besucht Ulrike sie noch.
Die Bäume, die den Park vor der Psychiatrie an diesem Tag wie einen Schlossgarten wirken lassen, machten Ulrike damals Angst. Ihre Schatten hingen schwer auf ihr, als sie das erste Mal den Anstieg Richtung Ambulanz emporging. Damals war es Winter, und die Bäume wirkten beängstigend wie Gerippe, deren Äste nach ihr greifen könnten. Jetzt bin ich endgültig verrückt, dachte Ulrike. Heute, im Schein der Sonne, werfen die Blätter und Äste angenehm kühle Schatten, wir gehen bergauf. Nichts deutet auf das dunkle Tal hin, das Ulrike durchschritt.
Wir setzen uns ins Wartezimmer. An den Wänden hängen bunte Bilder mit Süßigkeiten-Nahaufnahmen. Die Balkone des Gebäudes sind vergittert – Vorsichtsmaßnahme. Eine Frau mit Kopftuch und einem etwa acht Monate alten Baby spricht Ulrike an: „Sind Sie nicht die Frau, die das Buch geschrieben hat? Und jetzt haben Sie noch ein Kind? Meinen Sie, ich schaffe das auch?“
Wer einmal erkrankte, hat sich bereits ein Netz aufgebaut
Viele betroffene Frauen fragen sich das. Ulrike macht der Mutter Mut, so wie es gute Therapeuten machen würden: „SO wird Ihnen das nicht noch einmal passieren.“ Genauso wird es nämlich nicht mehr. Vielleicht ähnlich, aber nicht mehr so. Denn wer einmal erkrankte, hat sich bereits ein Netz aus Ärzten und Menschen aufgebaut, die ihnen guttun. Das schafft Sicherheit.
Wir dürfen ins Behandlungszimmer. Schräg über der Ärztin hängen Geburtskarten an der Wand, fröhliche Grüße zum Willkommen auf dieser Welt. Alle sollen doch so glücklich sein, wenn ein Kind kommt. Claudia Reiner-Lawugger sitzt uns gegenüber. Ulrike küsst Felix’ Stirn: „Es ist natürlich nicht immer alles leicht mit dem dritten Kind, aber es ist gut. Ich würde mich immer wieder für Felix entscheiden.“ „Schau“, sagt sie zur Ärztin, „der Felix sieht dich an, als wüsste er, dass es ihn ohne dich nicht gäbe.“
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Ulrike Schrimpf hat über ihre Erkrankung in einem Buch geschrieben: „Wie kann ich dich halten, wenn ich selbst zerbreche?“
© Quelle: Lisa Harmann
An diese Adresse können sich Betroffene wenden
Marcé-Gesellschaft für Peripartale Psychische Erkrankungen: Marcé Gesellschaft
Schatten & Licht e. V.: Initiative peripartale psychische Erkrankungen: Verein Schatten und Licht