„Eine Katastrophe mit Ansage“: Forschende analysieren Versäumnisse in der Flutkatastrophe

Das Wohnheim in Sinzig (Rheinland-Pfalz). Starkregen führte auch hier zu extremen Überschwemmungen. Aufgrund des schnell steigenden Wassers konnten zwölf Menschen nicht mehr vor den Fluten der Ahr gerettet werden – obwohl es Simulationen gab, die vor einer Überschwemmung der Straße warnte, in dem die Einrichtung für Menschen mit Behinderung liegt.

Das Wohnheim in Sinzig (Rheinland-Pfalz). Starkregen führte auch hier zu extremen Überschwemmungen. Aufgrund des schnell steigenden Wassers konnten zwölf Menschen nicht mehr vor den Fluten der Ahr gerettet werden – obwohl es Simulationen gab, die vor einer Überschwemmung der Straße warnte, in dem die Einrichtung für Menschen mit Behinderung liegt.

Das Efas (European Flood Awareness System) warnte schon Tage vor den Sturzregen in Rheinland-Pfalz und NRW mit der höchsten Warnstufe vor den Unwettern und deren Folgen. Zur Präsentation und Analyse der Karten nach Ablauf der vierwöchigen Blockade der Daten für Öffentlichkeit und Medien hatte das Science Media Center ein Expertenpanel eingeladen.

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„Extremereignisse bleiben eine Herausforderung”, sagte Annegret Thielken, Leiterin der Arbeitsgruppe Geographie und Naturrisikenforschung an der Universität Potsdam, und verwies darauf, dass es zwar in Deutschland mittlerweile eine einheitliche Farbabstufung bis Violett zur stärksten Form einer Naturkatastrophe gebe, deren Bedeutung aber unterschiedlich ausgelegt werde. So werte der Deutsche Wetterdienst DWD die Farbe Violett als lebensbedrohlich, wohingegen die Einstufung in einzelnen Bundesländern „nur“ weitreichende Schäden kennzeichne.

Nur Landkreise können Evakuierungen anordnen

Die Krux bei einer zentralen Bedeutung einer Gefahrenlage, da waren sich die Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler einig, liegt in Deutschland vor allem an den unterschiedlichen Zuständigkeiten. Während der DWD für Wetterkatastrophen im Allgemeinen zuständig ist, sind die für Flutlagen zuständigen Hochwasserzentralen Ländersache. Sie können aber wiederum keine Evakuierungen anordnen, das ist Sache der Landkreise.

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Jörg Dietrich, Leiter der Arbeitsgemeinschaft am Institut für Hydrologie und Wasserwirtschaft der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, wies darauf hin, dass zwar seit der Flutkatastrophe von 2002 verschiedene Warnsysteme entwickelt worden seien, die bereits drei bis fünf Tage vor einem Ereignis Modelle mit genauen Wasserabflüssen berechnen können. Dazu kämen aber wiederum eigene Simulationsmodelle der Bundesländer.

Die Efas-Daten hingegen zeigten schon Tage vor der Katastrophe an der Ahr und in NRW klare Projektionen. Im Bild unten ist die Voraussage per 13. Juli um 12 Uhr zu sehen. Da waren es noch rund 36 Stunden bis zum Eintritt der Katastrophe. Warum diese Daten einer vierwöchigen Sperrfrist unterliegen und erst per 13. August veröffentlicht wurden, vermochte niemand aus der Expertenrunde plausibel zu erklären.

Das künftige Katastrophengebiet um Ahrweiler am 13. Juli um 12 Uhr in einer Simulation der Efas.

Das künftige Katastrophengebiet um Ahrweiler am 13. Juli um 12 Uhr in einer Simulation der Efas.

Allerdings brauche es viel Fachwissen, um die Efas-Informationen zu verstehen und das fehle häufig auf Landkreisebene. Auch der DWD warnte bereits am 12. Juli gut 100 Anlaufstellen in Rheinland-Pfalz wie etwa Kreisverwaltungen und Feuerwehren. Am Folgetag wurde die Warnung verstärkt: „Die nächsten Tage haben es in sich.“ Doch dann passierte ein fataler Fehler. Am 14. gab es beim DWD eine Vorhersage, die etwas weniger dramatisch war. Sie wurde zwar bald korrigiert, allerdings ging durch die falsche Einschätzung wohl wertvolle Zeit verloren.

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Konsequenzen nicht „auf dem Schirm gehabt“

Bernhard Mühr, Geschäftsführer der EWB Wetterberatung, kommt zu dem Schluss: „Die Dringlichkeit war den handelnden Akteuren nicht ganz klar. Das fängt beim Wetterdienst an. Den Handlungsdruck weiter zu transportieren an Hochwasser und Zentralen, das kam abhanden.” Anscheinend habe man die Konsequenzen nicht so „auf dem Schirm gehabt“, so Mühr.

Blick auf die Gefahrensimulation für Sinzig in Rheinland-Pfalz. Deutlich zu erkennen im projizierten Überflutungsbereich ist die Pestalozzistraße, in der zwölf Menschen in den Fluten ums Leben kamen.

Blick auf die Gefahrensimulation für Sinzig in Rheinland-Pfalz. Deutlich zu erkennen im projizierten Überflutungsbereich ist die Pestalozzistraße, in der zwölf Menschen in den Fluten ums Leben kamen.

Die Efas-Warnsysteme lassen sich durchaus auf Mikrobereiche herunter brechen, wie das Bild oben zeigt. Hier ist ein Ausschnitt der Ortskarte von Sinzig zu sehen, bei der verschiedene Gefährdungsmodelle die jeweilige Ausbreitung des Hochwassers abbilden. Sinzig ist der Ort, in dem in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung 12 der 36 Bewohnerinnen und Bewohner in den Fluten der Ahr ertranken.

Auf dem Kartenausschnitt ist deutlich zu erkennen, dass auch die Pestalozzistraße (mit rotem Kreis markiert) im Fall der höchsten Katastrophenlage Q extrem überflutet wird, wenn der Deich (grüne Linie) die Wassermassen nicht mehr halten kann.

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Was also lief schief in der Informationskette? Jörg Dietrich hat eine Teilantwort. „Selbst bei einer Vorhersage-Akkuratesse von 100 Prozent muss die Warnung auch bei den Menschen ankommen.“ Das sei offensichtlich nicht hinreichend geschehen.

Annegret Thieken ergänzt: „Wir sprechen da von der letzten Meile, was kommt bei der Bevölkerung an. Das ist der anfälligste Teil, ob eine Warnung erfolgreich ist oder nicht.” Warnkarten von DWD und Hochwasserzentralen und Handlungsanweisungen müssten in den Medien besser verbreitet werden. „Man muss von Straße zu Straße und Haus zu Haus gehen, um die Leute aus den Häusern zu kriegen. Eigentlich hatten wir sieben Stunden Zeit gehabt, mit den Niederschlagsvorhersagen mehrere Tage. Eigentlich reichen 90 Minuten aus, um die meisten Toten zu vermeiden.“

„Eine schallende Ohrfeige für das Risikomanagement“

Zusammengefasst, so Thieken, war das „eine schallende Ohrfeige für das Risikomanagement. Ein Lehrstück, wie man in den Planungsunterlagen mit solchen sehr seltenen Ereignissen umgeht, um die hohen Opferzahlen zu vermeiden. Und wir müssen die Handlungsanweisungen verbessern. Das gilt auch für Hitzewellen, da gab es in Deutschland höhere Opferzahlen”.

Bernhard Mühr sagt jedoch: „Wir sollten auch nicht überwarnen bei unserer Vollkaskomentalität. Wir haben ein Warnrauschen, in dem wichtige Warnungen untergehen. Man braucht nicht vor jedem einzelnen Sommergewitter eine Warnung auszusprechen, das verwässert das ganze Warnwesen.” Handlungsanweisungen müssten klar kommuniziert werden. „Wir müssen konkrete Warn-Erwartungen formulieren, auch die höchste, wenn das realistisch ist. Insgesamt: Weniger ist mehr. Der Informationsfluss DWD-Hochwasserzentralen-Landratsämter muss überprüft werden.“

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Dramatisches Fazit der Runde, formuliert durch Jörg Dietrich: „Das war eine Katastrophe mit Ansage. Sie war aus den Daten ersichtlich – und eine klare Handlungsanweisung hat gefehlt.“

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