E-Paper

Folge des Klimawandels: Das langsame Sterben der Gletscher

Die Schweizer Gletscher sind durch den Klimawandel bedroht.

Die Schweizer Gletscher sind durch den Klimawandel bedroht.

Zermatt. Die Gondel stoppt mit einem Ruck, das Gefährt schaukelt in schwindelerregender Höhe. Ringsum thronen die gefrorenen Bergriesen des Schweizer Kantons Wallis. Rechts streckt sich das Matterhorn in den Himmel. Links strebt das Breithorn empor. Die Gondel startet wieder und fährt in die höchste Bergbahnstation Europas ein, auf 3883 Metern Höhe. Hier, auf dem Klein Matterhorn, bietet sich eine Aussicht auf 38 Alpengipfel. Umschlungen sind die Giganten von Gletschern, schroff und erhaben ruhen die Eismassen im Sonnenlicht. Wer richtig in die erstarrte Pracht eintauchen will, muss in den Gletscherpalast. Gut 15 Meter unter der Oberfläche des Theodulgletschers eröffnet sich das Matterhorn Glacier Paradise, ein funkelndes Labyrinth. Hier, unweit von Zermatt, bei Gefrierfachtemperaturen von minus 20 Grad Celsius, präsentiert sich die Welt der Gletscher. Hier ist diese Welt noch in Ordnung.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Seit dem Jahr 2000 verloren die Gletscher 30 Prozent ihres Volumens

In tieferen Regionen schmelzen die Gletscher jedoch in dramatischem Tempo – eine Folge des Klimawandels. „Die Schweizer Gletscher sind im Jahr 2020 um 2 Prozent Volumen geschrumpft“, sagt David Volken, einer der renommiertesten Gletscherexperten der Schweiz. Auch 2021 ging der Verlust an Gletschermasse weiter. Seit dem Jahr 2000 verloren die kalten Riesen 30 Prozent ihres Volumens. Der größte Gletscher der Alpen, der Große Aletsch, büßt jedes Jahr bis zu 1,5 Meter Eisdicke ein, berichtet Hydrologe Volken. Seit 1850 sackte der Große Aletsch im untersten Bereich sogar um 300 bis 400 Meter ab. Gut sichtbar, so berichten die Umweltschützer vom WWF, sei der Gletscherrückgang beim Hüttenwandern. „Das bekannteste Beispiel ist die Konkordiahütte, die einst bloß 50 Meter über dem Aletschgletscher erbaut wurde. Inzwischen geht es ab dem Eis über eine Treppe 150 Meter hinauf auf den Felsen.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Volken spricht leidenschaftlich über die Wunder der Natur, die sich vor unseren Augen auflösen: „Die Alpengletscher sind viel zu groß für das jetzige Klima. Selbst bei einem Stopp der Erderwärmung würde die Schmelze voranschreiten.“ Modellierungen zeigen, dass im günstigsten Fall 10 bis 20 Prozent der Gletschermasse bis Ende des Jahrhunderts übrig bleiben. „Im ungünstigsten Fall wird bis 2100 fast alles Eis in den Bergen verschwunden sein“, befürchtet Volken. So oder so, das Gesicht des monumentalen Gebirges wird bei der nächsten Jahrhundertwende nicht mehr zu erkennen sein.

Die Schmelze lässt sich nicht mehr stoppen, warnt Gletscherforscher David Volken.

Die Schmelze lässt sich nicht mehr stoppen, warnt Gletscherforscher David Volken.

Der lange Abschied von den Eisströmen verändert auch das Leben der Menschen in den Schweizer Bergen. „Das alles tut mir schon weh im Herzen“, sagt der fast 80-jährige Walter Josi. „Selbst habe ich über die Jahre beobachtet, wie Eislandschaften sich in Steinwüsten verwandelten.“ Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist er Bergführer, er hat alle 4000er Helvetiens erklommen. Einmal verschüttete ihn eine Lawine, fast eine Stunde lag er bewusstlos im Schnee begraben. „Leben und Überleben gehören bei uns in den Bergen sehr eng zueinander“, sagt Josi und erklärt: „Die Gletscher stabilisieren viele Gebiete in den Alpen. Zieht sich das Eis zurück, kann es verstärkt zu Steinschlägen, Felsabbrüchen und den gefürchteten Murgängen oder Schlammlawinen kommen.“ Tatsächlich häuften sich in den vergangenen Jahren die Bergstürze in den Schweizer Alpen und rissen Menschen in den Tod.

Das Abtauen der Gletscher bedroht langfristig auch die Versorgung mit Trinkwasser. Zwar setzt die Schmelze der Gletscher jetzt viel Wasser frei. Pro Jahr kommt etwa ein Kubikkilometer Wasser zusammen. Das entspricht laut Volken dem Verbrauch der Schweiz von Januar bis Dezember. „Aber irgendwann ist das in den Gletschern gespeicherte Wasser nicht mehr da“, warnt er.

Auch Hoteliers und Pistenbetreiber sind besorgt

Mit Sorge beobachten auch Hoteliers und Pistenbetreiber das Sterben der Gletscher und den Mangel an Schnee. So müssen Wintersportgebiete in Lagen unter 2000 Meter immer öfter die Pisten mit Kunstschnee präparieren. Langsam, aber sicher verschiebt sich diese „Kunstschneegrenze“ immer weiter nach oben. Hinzu kommt: „Um Kunstschnee herzustellen, braucht es niedrige Temperaturen. Wenn es immer wärmer wird, schließt sich somit auch das Zeitfenster für die Produktion des Kunstschnees“, erläutert Volken.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Sommerski ist kaum noch möglich

Wie offensichtlich sich Schnee und Eis ins Hochgebirge verabschieden, zeigt sich auch beim Sommerski. Glitten Skifahrer in den Siebzigerjahren im Sommer noch in etlichen Gebieten über die Pisten, lässt sich der alpine Spaß heute nur noch in einigen wenigen Regionen wie zum Beispiel Zermatt organisieren. Im vergangenen Winter verhagelte die Corona-Pandemie das Geschäft mit den Touristen. Aber, so unkt ein Hotelier in Zermatt, der namentlich nicht genannt werden möchte: „Corona könnte ein Vorgeschmack auf das sein, was uns bei zunehmendem Gletscherschwund und immer dürftigeren Schneefällen blüht: Dann bleiben noch mehr Besucher zu Hause als im Corona-Winter.“

Der ausbleibende weiße Niederschlag wirkt sich auch auf die Gletscher aus – und zwar verheerend. Denn die Schneedecke schützt Gletscher vor der Sonne. Das Weiß reflektiert die Strahlen. „Ein blanker Gletscher ist viel gefährdeter, weil die Sonnenstrahlen direkt in ihn eindringen können“, erklärt Experte Volken. „Je dunkler die Oberfläche eines Gletschers ist, desto schneller schmilzt er ab.“

Immerhin wollen die Schweizer dem Sterben der Gletscher nicht tatenlos zusehen. Sie übernahmen eine Technik, die in den Neunzigerjahren erstmals an der Zugspitze im südlichen Bayern Anwendung fand. Fachleute legen weiße Textilplanen auf die verwundbaren Eismassen. Als erster Gletscher der Schweiz bekam der Gurschenfirn am Gemsstock oberhalb von Andermatt solch ein riesiges „Pflaster“. „Seit 2004 wird er vom späten Frühjahr bis zum Herbst abgedeckt“, sagt Matthias Huss, Mitarbeiter der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Doch eine Auswertung von Luftbildern ergab laut WSL, dass insgesamt gerade einmal „0,02 Prozent der gesamten Gletscherfläche der Schweiz mit Geotextilien bedeckt sind“.

Ohnehin dämpft der Glaziologe Huss aufkeimende Hoffnungen. Denn das Abdecken stößt schnell an Grenzen: „Eine Anwendung im größeren Maßstab, also die vollständige Rettung von ganzen Alpengletschern, dürfte weder realisierbar noch bezahlbar sein.“ Um alle Schweizer Glaciers einzupacken, würden Kosten von mehr als einer Milliarde Franken pro Jahr anfallen. Und mit den Textilplanen greift der Mensch selbst in Landschaft und Umwelt ein. Huss bringt es auf den Punkt: „Die einzige Möglichkeit, den globalen Rückgang der Gletscher wirksam zu begrenzen, ist die Verringerung der Treibhausgasemissionen und damit der Erwärmung der Atmosphäre.“

Mehr aus Wissen regional

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken