Stillen in der Öffentlichkeit: „Was ist schöner, als für sein Baby einzustehen?“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/RPSU67XJ6VE6FB5TIT7JIZSXWQ.jpeg)
Anna Orlinski von dem Stillunternehmen Mania Stillmode setzt sich für einen entspannten Umgang mit dem öffentlichen Stillen ein.
© Quelle: Anna Orlinski
Immer wieder berichten stillende Frauen von Cafébetreibern, die sie vor die Tür gesetzt haben. In Amerika treffen sich Mütter mittlerweile zu sogenannten Nurse-ins. Sie stillen dort, wo es einer anderen Mutter zuvor untersagt wurde, und zwar nicht allein, sondern mit möglichst vielen Mitstreiterinnen. Anna Orlinski, 41, von dem Stillunternehmen Mania Stillmode setzt sich für einen entspannten Umgang mit dem Stillen in der Öffentlichkeit ein.
Frau Orlinski, haben Sie schon mal an einem Stillprotest in Deutschland teilgenommen?
Teilgenommen nicht, aber ich finde die Idee gut, mit einer kleinen solidarischen Demonstration auf die Diskriminierung stillender Mütter hinzuweisen. Ich zeige regelmäßig auf Social Media meinen Stillalltag und stille überall dort, wo meine Tochter gerade Hunger bekommt: in der Schule meines Sohnes, im Wartezimmer des Arztes, während eines beruflichen Meetings oder im Flieger.
Suchen Sie sich einen ruhigen Rückzugsort, oder stillen Sie mitten im Gewusel?
Ich suche mir einen bequemen Stuhl oder eine Bank mit Armlehne. Für mich ist wichtig, dass ich körperlich entspannt bin. Ob es dabei leise zugeht, spielt keine Rolle. Meine Tochter lässt sich nicht leicht ablenken.
Was war die schönste und was die schlimmste Reaktion von Passanten?
Eine Bekannte berichtete mir aber neulich unter Tränen, wie der Busfahrer sie aus dem Bus schickte, weil sie dort ihr Baby stillte. Da fehlen mir die Worte.
Anna Orlinski
Ich stille jetzt seit 21 Monaten und kann nur von positiven Reaktionen berichten. Ältere Damen, die mir freundlich zulächeln oder ihren Daumen nach oben halten, ein älterer Herr, der mich respektvoll in ein Gespräch über die gesunden Inhaltsstoffe von Muttermilch verwickelt, junge Mädchen, die wissen wollen, wie sich das Stillen anfühlt. Eine Bekannte berichtete mir aber neulich unter Tränen, wie der Busfahrer sie aus dem Bus schickte, weil sie dort ihr Baby stillte. Da fehlen mir die Worte.
Warum reagieren manche Menschen feindselig auf öffentliches Stillen?
Bis in die 50er-Jahre war Stillen auch an öffentlichen Plätzen absolut „gesellschaftstauglich“. Dazu gibt es wunderbares Archivbildmaterial. Es ist ja auch die natürlichste Art, ein Baby zu ernähren, und der Brustanteil, den man beim Stillen sieht, ist deutlich geringer als bei jeder zweiten Werbeanzeige. Aber die weibliche Brust wird in unserer Gesellschaft extrem sexualisiert und nicht mehr als das gesehen, was sie von Natur aus ist. Daraus entsteht dieser Widerwillen.
Sie selbst sind kein Stillfan von der ersten Sekunde. Nach der Geburt Ihres Sohnes vor acht Jahren empfanden Sie das Stillen als Stress. Was lief schief?
Als Erstlingsmama war es für mich mit vielen Unsicherheiten verbunden und musste sich einspielen. Ich litt unter wunden Brustwarzen, kämpfte mit Milchstaus und war überfordert mit dem Hungerrhythmus meines Babys. Mein Sohn forderte ständige Brustnähe. Dass das eine normale Entwicklungsphase war, erklärte mir niemand. Ich hätte jemanden gebraucht, der mich mit liebevoller Geduld ermutigt und mit mir übt, das Baby anzulegen. Stattdessen werden einem heute ruck, zuck die Ersatzprodukte der Babynahrungsindustrie zugeschoben. Man suggeriert uns: Kunstmilch vereinfacht dein Leben, jetzt kann sogar dein Partner das Baby füttern, ist das nicht ein herrliches Stück Freiheit?
So verliert das Stillen seine Selbstverständlichkeit.
Genau. Im 19. Jahrhundert durften Mütter wegen der anstehenden Feldarbeit oft gar nicht stillen. Ihre Babys bekamen Kuhmilch aus einem Kuhhorn, das zu selten gereinigt wurde und mit Bakterien verseucht war, was die hohe Kindersterblichkeit in manchen Regionen erklärt. Unsere Generation dagegen hat Raum, Zeit und optimale Bedingungen. Warum überwinden wir nicht einfach die kleinen Hindernisse der Anfangszeit und genießen dann über viele Monate die besondere körperliche Nähe zu unserem Kind?
Welche Alternative zum öffentlichen Stillen hat eine Mutter, die gerade unterwegs ist, wenn das Baby Hunger bekommt?
Keine, denn gerade bei einem Baby lassen sich die Abstände zwischen den Mahlzeiten nicht planen. Mir fehlte beim ersten Kind aber ein Accessoire, das es mir ermöglicht, diskret zu stillen, ohne mich von fremden Blicken stressen zu lassen. Irgendwann dachte ich: Du bräuchtest einen schönen Schal, den du beim Stillen als Sichtschutz nutzen kannst. Weil es den Schal meiner Fantasie bis dato nicht gab, entwickelte ich ihn zusammen mit meiner Mutter selbst.
Sie gründeten die Firma Mania Stillmode. Der Anfang war nicht leicht. Sie waren alleinerziehend, reisten mit Kind zu Stoffmessen durch Deutschland und standen spätabends – wenn das Baby schlief – im Keller, um die ersten bestellten Stillschals zu verpacken. Wer oder was hat Ihnen geholfen?
Die große Nachfrage anderer Mütter war für mich die beste Motivation. Ich erhielt so viel Zuspruch. In Cafés wurde ich auf meinen Stillschal angesprochen, und ungefragt erzählten mir Frauen von ihren Stillerfahrungen in der Öffentlichkeit. Ich hatte ein Produkt entwickelt, das offenbar genau auf die Bedürfnisse einer stillenden Mutter zugeschnitten war und gleichzeitig ein modisches Kleidungsstück. Ich schmiss meinen Job und machte mich mit meiner Stillschalfirma selbstständig.
Heute entwerfen, produzieren und verkaufen Sie Stillkleidung in großem Stil. Welche Produkte sind besonders gefragt?
Es ist mir ein Herzensanliegen, die Stillzeit für Mütter so entspannt wie möglich zu machen.
Anna Orlinski
Vor allem Stillkleider, Stillblusen und Stilloberteile, weil sie den Alltag einer stillenden Mutter um so vieles einfacher machen. Ein Handgriff und das hungrige Baby kann diskret an die Brust angelegt werden. Es ist mir ein Herzensanliegen, die Stillzeit für Mütter so entspannt wie möglich zu machen. Die Brustzugänge sind bewusst so eingearbeitet, dass man die Kleidung auch nach der Stillzeit weitertragen kann und die Lieblingsstücke nicht aus dem Kleiderschrank verbannen muss. Auch im Sinne der Nachhaltigkeit.
In diesen Tagen wird es draußen wieder kälter. Stillende Frauen tauschen das ruhige Plätzchen auf der Parkbank mit einem Stuhl im Café. Wie können sie eine Brücke bauen zu älteren Generationen, die der Blick auf die nackte Brust vielleicht doch mal irritiert?
Mit einem offenen und herzlichen Gespräch, in dem sie die eigene Perspektive auf das Stillen erklären. Die meisten Brücken lassen sich mit Empathie schlagen. Und was gibt es Wichtigeres, als für die Bedürfnisse eines Kindes einzustehen?