Doreen Cunningham wanderte mit den Grauwalen

„Wir tun so, als würden wir die Wale retten, dabei zerstören wir sie eigentlich“

Ein Grauwal steigt aus dem Wasser empor.

Ein Grauwal steigt aus dem Wasser empor.

Frau Cunningham, wären Sie gerne ein Meeressäuger?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ein Meeressäuger? Ich liebe es, im Meer zu sein und zu schwimmen, wenn Sie das meinen.

Ich frage Sie das eigentlich, weil Ihr Twitter-Username @sea_mammal, also übersetzt Meeressäuger, lautet. Und ich habe mich gefragt, was Sie mit den Tieren verbindet.

Nicht nur ich, sondern wir alle haben viel mit Meeressäugern wie Walen gemein. Wale und Menschen haben sehr komplexe Gesellschaften, eine Kultur, die sie an ihre Kinder weitergeben. Es gibt zum Beispiel Orca-Großmütter, von denen man annimmt, dass sie ihren Enkeln beibringen, wie man Grauwale jagt, weil es eine Zeit lang nicht genug von ihnen zu essen gab. Pottwale haben wiederum unterschiedliche Akzente, so wie wir unterschiedliche Dialekte sprechen. Und Menschen und Wale bringen ihre Kinder auf dieselbe Weise zur Welt. Als ich meinen Sohn Max zur Welt gebracht habe, fühlte ich mich sehr allein, und in diesem Moment der absoluten Verzweiflung ging ich unter Wasser und rief mit allem, was ich hatte, die Wale an. Und ja, ich hatte das Gefühl, dass sie mir halfen. Es gab nicht viel, was mir zu diesem Zeitpunkt Kraft gab, aber die Wale taten es wirklich.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Doreen Cunningham ist in Wales geboren und ausgebildete Umweltingenieurin. Sie arbeitete zunächst in der Klimaforschung am Natural Environment Research Council, dem britischen Forschungsrat für Umweltfragen. Dann verschlug es sie in den Journalismus. Zwanzig Jahre lang arbeitete sie für die BBC, reiste für die Rundfunkanstalt 2006 nach Alaska, wo sie einige Monate mit den Iñupiat zusammenlebte.

Doreen Cunningham ist in Wales geboren und ausgebildete Umweltingenieurin. Sie arbeitete zunächst in der Klimaforschung am Natural Environment Research Council, dem britischen Forschungsrat für Umweltfragen. Dann verschlug es sie in den Journalismus. Zwanzig Jahre lang arbeitete sie für die BBC, reiste für die Rundfunkanstalt 2006 nach Alaska, wo sie einige Monate mit den Iñupiat zusammenlebte.

Ist diese tiefe Verbundenheit der Grund gewesen, warum Sie mit Ihrem Sohn Max 2013 den Grauwalen bei ihrer Wanderung von Mexiko nach Alaska gefolgt sind?

Diese Idee hat plötzlich von mir Besitz ergriffen, sie kam in gewisser Weise fast unbewusst. Ich habe damals mit Max als alleinerziehende Mutter in einem Wohnheim gelebt. Ich war an diesem Tag sehr müde und deprimiert. Seit etwa einem Jahr lebte ich mit ihm in dem Wohnheim, war nicht in der Lage, genug Geld zu verdienen, um uns zu ernähren, und wusste nicht, wie ich jemals wieder dort herauskommen sollte. Mein Sohn schlief bereits und ich wollte noch arbeiten, habe dann aber stattdessen ein Video mit David Attenborough (ein britischer Tierfilmer und Naturforscher, Anm. d. Red.) angeschaut, in dem ein großer Blauwal neben seinem Boot auftauchte. Das Tier war so majestätisch, wie es aus dem Wasser kam. Und dann habe ich begonnen, über Wale zu lesen. Blauwale, Grönlandwale, Buckelwale. Und schließlich bin ich auf die Grauwale gestoßen, von denen ich bis dahin nichts wusste. Sie haben mich sofort in den Bann gezogen.

Wieso?

Ich war so fasziniert davon, dass die Walmütter es ganz allein schaffen, mit ihren Kälbern von Mexiko bis Alaska zu schwimmen. Sie ziehen durch die Welt und stellen sich diesen unglaublichen Herausforderungen. Ich wiederum fühlte mich damals als Alleinerziehende sehr allein und von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Ich hatte keinen Partner, kein Zuhause, ich entsprach einfach nicht dem Standard. Mit den Grauwalmüttern verspürte ich wiederum so eine Solidarität, dass ich dachte: „Oh, ich möchte ein bisschen mit den Walen abhängen, bitte. Ich bin fertig mit Menschen für eine kurze Zeit.“ Dann war es wie eine Schnur, an der ich gezogen wurde. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht. Ich habe einfach angefangen, Visa zu organisieren, Tickets zu buchen, eine Reiseroute zu planen. Ich habe meine Bank belogen, behauptet, ich hätte noch einen Job, um einen Kredit zu bekommen, der ausreichte, um die Flüge und die Reise zu finanzieren. Ich habe nicht bemerkt, dass das, was ich tat, außergewöhnlich war.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Es war also kein normaler Urlaub, sondern vielmehr eine Selbstfindungsreise.

Ja, ich habe Unterstützung gesucht. Die Wale sind für mich eine ständige Kraftquelle. Sie sind so inspirierend. Egal, vor welcher Herausforderung sie stehen, sie machen weiter, kämpfen, Atemzug für Atemzug. Aber sie passen sich auch an, wenn es sein muss, finden neue Wege, bilden neue Gemeinschaften, etablieren neue Verhaltensweisen.

Klima-Check

Erhalten Sie die wichtigsten News und Hintergründe rund um den Klimawandel – jeden Freitag neu.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Was haben Sie gehofft, von den Grauwalen zu lernen?

Oh, ich habe nichts gehofft. Ich habe wie gesagt nicht so bewusst darüber nachgedacht, was ich mache. Ich wollte nur weg von dort, wo ich war. Und trotzdem habe ich auf der Reise viel gelernt. Die Wale waren so verspielt, es war unmöglich, nicht in dem Moment bei ihnen zu sein. Wir haben gelernt, diesen Tieren zu vertrauen, die unser Boot hätten umkippen können. Die Menschen, mit denen sie mich unterwegs in Kontakt brachten, waren ebenfalls erstaunlich. Ich brauchte Hilfe und sie waren immer da, als wir die Westküste hinauffuhren, vor allem andere Mütter mit kleinen Kindern und Alleinerziehende. Sie halfen mir dabei, wieder ein Gemeinschaftsgefühl aufzubauen. Und ich konnte meinem Sohn Max zeigen, dass die Wale und wir das Gleiche tun und wir nicht allein sind. Die Walmütter und ihre Babys waren so eine schöne Sache, über die man mit einem Zweijährigen reden konnte. Leider tauchten die Tiere aber nie auf, wenn ich auf sie gewartet habe. Das hat mich jedoch dazu gebracht, intensiv über meine und ihre Position in der Welt nachzudenken.

„Der Gesang in den Meeren“ von Doreen Cunningham; 368 Seiten; ISBN: 978-3-498-00242-8; Rowohlt Verlag GmbH; Preis: 23 Euro (D), 23,70 Euro (A).

„Der Gesang in den Meeren“ von Doreen Cunningham; 368 Seiten; ISBN: 978-3-498-00242-8; Rowohlt Verlag GmbH; Preis: 23 Euro (D), 23,70 Euro (A).

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wie meinen Sie das?

Ich meine damit, dass wir uns zurückhalten und sie in Ruhe lassen müssen, einfach ihren Platz auf diesem Planeten respektieren müssen. Unsere Invasion in ihren Lebensraum ist wirklich katastrophal. Wir sind zu laut, was ihre Wanderungen stört. Wir verschmutzen die Ozeane zu stark. Doch wir tun so, als ob alles in Ordnung wäre, dabei haben die Wale in Wirklichkeit keine Chance, uns zu entkommen und dem, was wir mit den Ozeanen gemacht haben. Und wir ignorieren das geradezu und tun so, als wären wir mitfühlend und würden die Wale retten, aber in Wirklichkeit zerstören wir sie. Es wäre gut, wenn wir das realistisch sehen würden und unsere Auswirkungen auf die Unterwasserwelt. Es bricht mir das Herz, wenn ich an die Situation denke, in der sich die Wale jetzt befinden.

Glauben Sie, dass Grauwale auf dieser Erde noch eine Zukunft haben? Gerade schrumpfen die Populationen – nicht zuletzt wegen des Klimawandels und der Überfischung.

Ich denke, das ist eine wirklich riesige Frage – und sie ist nicht geklärt. Es hängt wirklich davon ab, wie wir uns von nun an verhalten. Grauwale haben sich schon mehrmals vor dem Aussterben gerettet – auch weil sie sich neue Verhaltensweisen angeeignet haben. Es gibt zum Beispiel ein unglaubliches Grauwalweibchen, von dem ich auf meiner Reise erfahren habe, mit dem Spitznamen Earhart.

Grauwale, die Zeugen des Klimawandels

Grauwale sind wahre Langstreckenschwimmer: Auf ihren Wanderungen legen sie pro Jahr zwischen 15.000 und 20.000 Kilometer zurück – von Baja California (Mexiko) bis nach Alaska, und wieder zurück. Damit halten sie einen Weltrekord. Kein anderes Säugetier auf der Erde wandert längere Strecken. Heute existieren nur noch zwei Grauwalvorkommen im Ost- und Westpazifik. Überfischung, Walfänge und Öl- und Gasbohrungen lassen die Bestände schrumpfen. Die westpazifischen Grauwale gelten inzwischen als vom Aussterben bedroht. Nach Angaben der Weltnaturschutzunion gibt es nur noch etwa 125 bis 156 lebende Tiere. Die Population im Ostpazifik wird auf etwa 20.000 Individuen geschätzt. In den vergangenen Jahren wurden immer weniger Grauwalkälber gezählt. Dafür kam es aber häufiger zu Walstrandungen entlang der Küsten. Die genaue Todesrate bleibt weiterhin unklar, denn die meisten toten Tiere versinken im Meer und landen nicht in den Statistiken.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wie Amelia Earhart, die Pionierpilotin?

Genau. Earhart gehört zur Gruppe der Sounders, die sich eine neue Nahrungsquelle erschlossen haben: Glasgarnelen, die in den Gewässern des nördlichen Puget Sound (Meeresbucht im Nordwesten des US-amerikanischen Bundesstaats Washington, Anm. d. Red.) vorkommen. Die Sounders riskieren dafür ihr Leben und begeben sich in die Gezeitenzone, wo sie, wenn sie den Zeitpunkt oder die Richtung falsch einschätzen, sehr leicht stranden können. Diese Pioniergruppe wächst inzwischen und immer mehr Wale unterbrechen ihre Wanderung und treten sozusagen in die Fußstapfen der Pioniere. Das Problem dabei ist: Es gibt nun häufiger Walstrandungen, weil eben nicht alle Wale die Gefahr der Gezeitenzone richtig einschätzen. Doch Earhart ist ein Beispiel für die Anpassungsfähigkeit, das Durchhaltevermögen und die Gemeinschaftsbildung von Walen.

In der Laguna Ojo de Liebre ist es Ihnen gelungen, einen Grauwal aus der Nähe zu sehen. Ihr Sohn Max hat sogar einen gestreichelt. Was war das für ein Gefühl?

Es war wirklich seltsam.

Ein Grauwal zum Anfassen: Max hat die Gelegenheit, ganz nah an die Tiere heranzukommen.

Ein Grauwal zum Anfassen: Max hat die Gelegenheit, ganz nah an die Tiere heranzukommen.

Glauben Sie, dass diese Begegnung mit den Walen auf Ihren Sohn die gleiche Wirkung hatte wie auf Sie?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Das ist schwer zu sagen. Er hatte eine tolle Zeit, das ist sicher. Diese ganze Reise hat uns Raum zum Atmen gegeben. Sie hat uns verbunden, eine sichere Basis für unsere Beziehung geschaffen. Viele haben mir im Vorfeld gesagt: Er ist noch viel zu jung, er wird sich später an nichts mehr erinnern können. Tatsächlich erinnert sich Max nicht mehr genau an jedes Detail unserer Reise, aber ganz verschwunden sind die Erinnerungen noch nicht. Das liegt wohl auch daran, dass ich viele Videos habe, die ich ihm immer wieder vorspiele. Und bei uns zu Hause hängen auch genügend Bilder von unserem Abenteuer, also ganz vergessen wird er es nie.

Halten Sie es für wichtig, dass jüngere Generationen wie die von Max etwas über die Meeresökosysteme und ihre Bewohner lernen?

Ich halte es für unerlässlich.

Warum?

Ich glaube, dass wir uns zusammen mit diesen verschiedenen Tieren entwickelt haben. Wir sind Teil der nicht menschlichen Welt. Ich bin 2006 für die BBC nach Alaska gereist und habe dort mehrere Monate mit den Iñupiat (indigene Ureinwohner Alaskas, Anm. d. Red.) zusammengelebt. Sie haben zum Beispiel eine unglaublich starke Bindung zu den Tieren, mit denen sie leben. Sie haben eine wechselseitige Beziehung zur natürlichen Welt und ein sehr tiefes Verständnis dafür, was es bedeutet, Teil der Natur zu sein. Ich möchte, dass auch meine Kinder mehr draußen sind und Beziehungen zu Tieren haben. Es ist ein Teil von uns, Teil unserer Psychologie seit den Anfängen unserer Existenz, dass wir mit diesen Tieren koexistieren. Und wenn wir das verlieren, werden wir weniger menschlich. Es wäre einfach ein großer Verlust.

Mehr aus Wissen

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken