Traumaexperte erklärt

Warum uns der Krieg in der Ukraine so berührt – und wie wir uns selbst beruhigen können

Traumaexperte erklärt: So wirken die Bilder vom Ukraine-Krieg in unserem Gehirn.

Traumaexperte erklärt: So wirken die Bilder vom Ukraine-Krieg in unserem Gehirn.

Trauer, Wut, Angst, Hilflosigkeit, Schuld, Neugierde – unser gesamter Körper reagiert auf die andauernden Kämpfe in der Ukraine. Das Resultat: Menschen gehen zu Hunderttausenden auf die Straßen, spenden, nehmen Flüchtende auf. Manche sammeln Hilfsgüter, fahren diese auf eigene Faust in die Grenzgebiete. Viele leiden mit den Menschen in der Ukraine mit.

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Aber warum ist unsere Hilfsbereitschaft gegenüber den Menschen in der Ukraine so groß? Und wie gelingt es uns, in dieser unruhigen Zeit gesund zu bleiben? Antworten auf diese Fragen hat der Traumaexperte Prof. Dr. Thomas Loew. Er ist Chefarzt der psychosomatischen Abteilung der Universität Regensburg, lehrt dort Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und setzt sich weltweit für die Therapie traumatisierter Flüchtlingskinder ein.

Herr Loew, seit Tagen verfolgen wir einen Krieg in Europa. Für viele Menschen in Deutschland waren das Leid und die Gefahr noch nie so nah, so allgegenwärtig und so unvorhersehbar. Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir Bilder und Videos aus der Ukraine sehen?

Unser Gehirn ist das eines Steinzeitmenschen. Wir reagieren heute immer noch genau so wie vor 50.000 Jahren. Für unser Hirn ist es nicht entscheidend, ob es sich um ein Bild oder um eine reale Situation handelt. Es versucht, die Informationen, die es bekommt, in Bekanntes einzuordnen, zu bewerten und daraus Handlungsschlüsse zu ziehen – mit dem Ziel zu überleben.

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Die wichtigste Informationsquelle sind dabei die Menschen, die wir beobachten. Denn es ist für uns überlebenswichtig zu wissen, was andere Menschen denken, erleben und was sie uns mitteilen. Und um zu verstehen, was der andere ausdrückt, spiegeln wir unser Gegenüber: seine Mimik, seine Körperhaltung, seine Emotionen. Wir fühlen mit. In welchem Umfang und mit welchen Gefühlen, das ist bei jedem anders. Die einen entwickeln Tatkraft, die anderen reagieren zurückhaltend.

Trotzdem ist das Mitgefühl in der jetzigen Situation ein anderes. Die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine ist größer als je zuvor: Privatpersonen organisieren Hilfstransporte, in vielen Städten füllen sich die Straßen mit Demonstranten. Warum trifft uns das Leid der Menschen in der Ukraine heute mehr als das anderer Kriege?

Das hat damit zu tun, dass wir uns umso mehr mit einer Situation identifizieren, je näher sie uns ist. Wenn wir Bilder aus dem Dschungel oder aus der Wüste sehen, schafft das eine andere Nähe, als bei Bildern aus einem Kulturraum, in den wir uns unmittelbar einfühlen können.

In der Corona-Pandemie hatten wir das Gefühl, dass wir die Situation beherrschen können, wenn wir uns an die Regeln halten.

Die Wohnblocks in Kiew sehen genauso aus wie die in Berlin-Marzahn. Die Klamotten der Menschen sind dieselben, die Gesichter sind dieselben. Die Szenen in Kiew am Bahnhof könnten genauso auch bei uns sein. Deshalb fühlen wir uns dieser Situation viel näher. Je mehr wir uns mit einer Situation in Kontakt bringen können, je mehr wir uns unbewusst mit den Menschen dort in Verbindung bringen können, desto mehr fühlen wir mit.

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Spielen auch die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre eine Rolle? Hat uns die Corona-Pandemie mitfühlender gemacht?

Nein, da sehe ich keinen Zusammenhang. Ich denke, dieser Krieg rührt aus vielen Gründen unmittelbar in die Familien hinein. Der Deutsch-Sowjetische Krieg liegt nur zwei Generationen zurück, mein Onkel ist in der Ukraine gefallen, jeder zweite überlebende Großvater hat an der Ostfront gekämpft. Diese Ängste und Erfahrungen werden jetzt reaktiviert. Dazu kommt die wirtschaftliche Bedrohung: im BMW-Werk hier in Regensburg stehen die Bänder still. Das sind 10.000 Arbeitsplätze. Auch die Benzinpreise steigen, plötzlich sind lauter Zweien auf der Anzeige an der Tankstelle, wo vorher noch Einsen waren. Die Auswirkungen des Krieges kommen auch in Deutschland an. Wir erleben eine kollektive, existenzielle Bedrohung – aber anders als in der Pandemie.

Was unterscheidet die Corona-Pandemie von dem Krieg?

In der Corona-Pandemie hatten wir das Gefühl, dass wir die Situation beherrschen können, wenn wir uns an die Regeln halten. Nach den ersten unsicheren Wochen haben wir schnell gelernt, uns zu arrangieren – und wir konnten handeln. Aber bei der momentanen Katastrophe schauen wir zu und wir wissen nicht, wie es ausgeht. Das ist der große Unterschied.

Jeder von uns wird in seinem Leben schlimme Traumata mitbekommen, ob das Verkehrsunfälle sind, Erkrankungen oder Naturkatastrophen, Flucht oder Kriegsereignisse. Das besondere bei Kriegshandlungen ist, dass es nichts unvermeidliches ist, sondern etwas, das Menschen anderen Menschen antun. Das macht es für uns besonders belastend. Es liegt nicht in unserer Hand, ob es einen Atomkrieg geben wird oder nicht. Aber wir können unsere Emotionen in unserem Alltag regulieren. Und wenn es uns gelingt, uns selbst zu beruhigen, können wir auch beruhigend auf andere wirken.

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Dass die Belastung im Gehirn hochgefahren wird, können wir nicht verhindern. Aber das biologische Erleben der Belastung können wir runter regulieren.

Sich selbst zu beruhigen ist eine große Herausforderung, vor allem in dieser Zeit. Wir haben rund um die Uhr Zugriff auf Nachrichten und konsumieren die Entwicklungen oftmals in Echtzeit. Wie geht unser Gehirn mit diesen vielen ungefilterten Informationen um?

Das Problem ist: Wir Menschen sind biologisch darauf gepolt, Informationen aufzunehmen und zu speichern – weil es unser Überleben sichert. Auf der anderen Seite versetzen uns diese Informationen die ganze Zeit in einen Alarmzustand, der unsere Aufmerksamkeit besonders scharf stellt. Das sorgt dafür, dass wir gar nicht mehr wegkommen von den Informationskanälen. Das ist ein Problem.

Die Pause ist genauso wichtig wie die Aktivität. Unser Hirn braucht sie zum Regenerieren. Stress und Ängste sind keine Sache der Psychologie, sondern der Biologie. Wir nehmen belastende Situationen mit unseren Sinnen auf und reagieren unmittelbar mit dem ganzen Körper. Das heißt: Reize wirken bereits körperlich, bevor sie uns überhaupt bewusst werden. Da müssen wir sehr früh gegensteuern.

Aber können wir überhaupt gegen diese automatischen Prozesse in unserem Gehirn gegensteuern? Lässt sich unser Gehirn von uns austricksen?

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Dass die Belastung im Gehirn hochgefahren wird, können wir nicht verhindern. Aber das biologische Erleben der Belastung können wir runter regulieren. Das funktioniert zum Beispiel über eine verlangsamte Atmung, bei der man mindestens drei Minuten lang die Atemfrequenz halbiert: vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen. So täuschen wir unserem Körper vor, er würde schlafen – und er beginnt zu regenerieren. Das ist eine ganz einfache Technik, die aber nachweislich bei jedem Menschen den biologischen Stress reduziert.

Unser Steinzeitgehirn hat auch gelernt, dass wir nur überleben können, wenn wir uns in Bewegung setzen. Wenn wir Pilze sammeln, Hütten bauen oder davon laufen. Darum entspannen wir uns, wenn wir stricken, kochen, musizieren oder spazieren gehen – bei Bewegungen, die beide Gehirnhälften aktivieren. Das nennen wir bilaterale Stimulation. Auch in den Momenten, in denen wir schaukelnde Bewegungen machen, bei einem anstrengenden Telefonat herumlaufen oder uns selbst umarmen, aktivieren wir unbewusst unsere Selbstberuhigungs- und Stabilisierungssysteme. All diese Mechanismen nutzen wir, um schlimme Geschichten zu verarbeiten.

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Das beste ist eine Kombination aus beidem: entschleunigte Atmung mit Bewegungsimpulsen. Diese Techniken sind schon seit Tausenden Jahren in Gebrauch, vor allem in religiösen Praktiken. Psalmen zu singen oder laut zu beten ist nichts anderes als entschleunigtes Atmen mit Ton. Das langsame Schreiten bei Prozessionen ist bilaterale Stimulation. Heutzutage finden wir die Kombination auch in jeder Entspannungstechnik – angefangen beim Autogenen Training bis hin zur Zen-Meditation. Dabei geht es nicht darum, welche Methode die beste ist. Wichtig ist nur, dass wir sie umsetzen.

So lange wir in der Lage sind, unseren unmittelbaren Raum zu kontrollieren, können wir uns auch um die großen Probleme kümmern und sind nicht unseren massiven Ängsten ausgesetzt.

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