Online-Enzyklopädie in Gefahr?

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales: „Wir nehmen die Angriffe ernst“

Jimmy Wales hat 2001 die Online-Enzyklopädie "Wikipedia" mitgegründet. Für den Erfolg müsse man vor allem eins aufbauen, sagt er: Vertrauen.

Jimmy Wales ist zwar US-Amerikaner, aber als er in Berlin zum Interview empfängt, ist sein Auftreten „very British“ (denn er lebt seit mehr als zehn Jahren in London) – und sogar Deutsch spricht er ein bisschen (denn am Anfang waren so viele der Hobby-Autoren der Wikipedia Deutsche, dass er als Gründer der Online-Enzyklopädie die Sprache mit einem CD-Kurs im Autoradio lernen wollte). Das erzählt der 59-Jährige, etwas amüsiert über die anderen Zeiten damals, bevor er über sein erstes Buch sprechen will.

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Darin erzählt er von einer Erfolgsgeschichte, die er 2001 (mit) gestartet hat: Die gemeinnützige, kostenlose Wikipedia ist seither so erfolgreich geworden, dass sie heute unter den fünf meistbesuchten Websites der Welt rangiert – und als eines der verlässlichsten Nachschlagewerke im Internet gilt. Aus dem weiten Weg dahin kann man viel lernen, findet Wales, vor allem darüber, wie man Vertrauen aufbauen kann. Daran fehlt es in den westlichen Gesellschaften zurzeit, findet er – und hat deshalb ein Buch darüber geschrieben, wie wir es besser machen können.

Mr. Wales, in Ihrem ersten Buch erklären Sie, warum Vertrauen in der Wirtschaft so wichtig ist – aber auch für die Demokratie. Und doch geht es immer wieder um Ihre große Erfindung: Wikipedia. Vermissen Sie die Zeit, als Sie noch jeden Tag an der Online-Enzyklopädie arbeiten konnten?

Aber das tue ich doch noch. Ich bin nach wie vor stark in die Community eingebunden, ich bin im Kuratorium der Wikimedia-Stiftung tätig und vieles mehr. Die Wikipedia ist immer noch ein wichtiger Teil meines Lebens.

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Wir hatten gedacht, mit einem Posten im Kuratorium ist man nicht jeden Tag befasst. Haben Sie auch noch Zeit, selbst Wiki-Artikel zu schreiben oder zu überarbeiten?

Nicht mehr so viel, aber gelegentlich schon. Zuletzt habe ich, so weit ich mich erinnere, etwas auf einer Diskussionsseite über den Polit-Aktivisten Charlie Kirk geschrieben, der im September ermordet wurde ...

Diese öffentlichen Diskussionen gehörten zu den Maßnahmen, die Sie einst eingeführt haben, um die Qualität der Artikel zu erhöhen.

Und es hat gewirkt. Die Wikipedia zählt aufgrund ihrer Transparenz und Quellenstrenge zu den vertrauenswürdigsten Informationsquellen überhaupt.

Jimmy Wales, Mitbegründer der Online-Enzyklopädie "Wikipedia" in Berlin.

Aber das System hat Schwächen. Ich habe die französische Schauspielerin Juliette Binoche einmal im Interview darauf angesprochen, dass ihre polnischen Großeltern in einem Konzentrationslager interniert waren. Das steht so in ihrem Wiki-Eintrag – ist aber falsch. Binoche sagte mir, sie seien zwar aus Polen geflohen, waren aber nicht im KZ. Trotzdem konnte ich die Falschinformation nicht aus der Wikipedia löschen, weil sie mit dem fehlerhaften Text eines britischen Journalisten belegt war. Und ich hatte keinen schriftlichen Beleg für Binoches Dementi.

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Ich hoffe, Sie haben darüber geschrieben, damit es eine neue Quelle gibt. Das ist die beste Lösung in solchen Fällen.

Also hätte nicht einmal Juliette Binoche selbst den Fehler löschen können. Wie oft überprüfen Sie eigentlich den Wiki-Artikel über Jimmy Wales?

So gut wie nie. Es ist nie hilfreich, den eigenen Wiki-Eintrag zu lesen. Man ist auch nicht unbedingt die beste Quelle für Informationen über sich selbst. Schließlich kann auch die eigene Erinnerung trügen.

Haben Sie mal eine Falschinformation über sich gelöscht?

Mir hat mal jemand ein Porträt aus einem US-Magazin geschickt, in dem es hieß: „In seiner Freizeit spielt er Schach mit seinen Freunden.“ Ich dachte, wie kommen die denn darauf?!

Schluss mit Zuckerberg und Musk: So will eine Gruppe Social Media revolutionieren

Nach den Ankündigungen von Mark Zuckerberg, die Meta-Plattformen zu verändern, plant eine Gruppe aus Internetfachleuten ein völlig neues Social-Media-Ökosystem. Es soll Alternativen zu Instagram, Facebook und Co. ermöglichen, die keinem Tech-Milliardär gehören. Zu den ersten Unterzeichnern der Pläne gehören bekannte Schauspieler und auch der Wikipedia-Gründer.

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Was war falsch: dass Sie Schach spielen – oder dass Sie Freunde haben?

Haha, ich kann sogar Schach, aber mit meinen Freunden koche ich lieber. Also habe ich das Magazin gefragt, woher sie das haben. Und, klar, es hatte in der Wikipedia gestanden. Ein Fall von Vandalismus, wenn auch ein milder. Es war sogar aufgefallen, dass eine Quelle fehlte. Blöderweise erschien kurz darauf dieser Magazin-Text – und voilà, da war die Quelle.

Autsch.

Aber das Magazin hat es richtiggestellt, also ist es bei Wikipedia verschwunden. Obwohl das mit dem Schach gut klang.

In Ihrem Buch geht es um Wichtigeres: Sie beschreiben, wie das schwindende Vertrauen in Politik und Medien die gesamte freiheitliche Ordnung gefährdet. So lassen sich auch die Erfolge von Populisten wie Donald Trump erklären. Sie schreiben aber, dass Vertrauen jeden Erfolg erst ermöglicht. Heißt das, die Wähler von Trump & Co. vertrauen dem, was die sagen?

Das tun sie sicherlich – bis zu einem gewissen Grad. Aber ein zentraler Grund für die aktuelle Lage ist, dass der Vertrauensverlust in die Politik diesen Zynismus hervorgebracht hat: Es lügen ja doch alle Politiker – also ist es normal, wenn es „mein“ Held es auch tut. Ich erinnere mich gern an den Wahlkampf von Barack Obama gegen John McCain: grundverschiedene Positionen, aber zwei ernsthafte, verantwortungsbewusste Menschen. Davon bräuchten wir wieder mehr. Politiker sollten wissen: Wenn sie lügen, müssen sie sich entschuldigen.

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Wikipedia-Gründer Jimmy Wales im Interview mit RND-Hauptstadtkorrespondent Steven Geyer.

Ist dieser Zug nicht abgefahren? Seit Trumps Leute seine Lügen zu „alternativen Fakten“ erhoben haben, leben wir in „postfaktischen Zeiten“.

Es gibt keinen Zauberstab. Aber es gibt Elemente, die Vertrauen fördern: Transparenz, Empathie, klare Standards. Institutionen müssen sich fragen: Wo sind wir falsch abgebogen – und wie gewinnen wir Glaubwürdigkeit zurück? In Großbritannien steht der öffentliche Rundfunk, die altehrwürdige BBC, gerade vor dieser Frage. Weil sie ihre eigenen Standards verletzt haben. Aber Vertrauen lässt sich zurückgewinnen! Das hat mir zum Beispiel die Harvard-Professorin Frances Frei erzählt, die vor ein paar Jahren „Uber“ durch eine Vertrauenskrise geführt hat, nachdem in dem Unternehmen massives Fehlverhalten enthüllt worden war. Sie sagte mir, der Satz „Verlorenes Vertrauen lässt sich nicht zurückgewinnen“ stimmt schlicht nicht.

Aber Vertrauen funktioniert heute ja anders: Viele Menschen glauben nicht mehr an Fakten – sondern an das, was sie hören wollen. Die BBC ist in der Krise, weil sie eine Trump-Rede suggestiv geschnitten hat – aber Trumps Haussender „Fox News“ sind Fakten längst egal.

Auch „Fox News” kann daraus etwas lernen, denn Studien zeigen: Einseitigkeit untergräbt das Vertrauen – selbst bei denen, die dir zustimmen. Die meisten Menschen sind vernünftig. Man bekommt nur einen falschen Eindruck, wenn man zu viel Zeit auf „X“ und anderen Social Media verbringt – wo die Algorithmen schlechtes Verhalten belohnen. Wir haben mit der Organisation „Braver Angels“ gesprochen, die Menschen mit völlig unterschiedlichen Ansichten zusammenbringen – und der Austausch funktioniert. Man muss einander nicht überzeugen. Aber man versteht einander wieder als Mensch.

Die meisten Menschen sind vernünftig. Man bekommt nur einen falschen Eindruck, wenn man zu viel Zeit auf „X“ verbringt

Jimmy Wales über Streitkultur

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Da Sie die Social Media ansprechen: Nutzen Sie noch X und Co. ?

Es geht nicht ganz ohne, weil dort viele Informationen verbreitet werden, die ich sehen muss. Und seit Elon Musk Twitter übernommen und umgebaut hat, braucht man dafür einen Account. Aber vom Handy habe ich die App gelöscht. Ich habe gemerkt, dass es süchtig macht – und nicht im guten Sinne. Seitdem schaue ich seltener rein, und das ist meinen Nerven sehr zuträglich.

Der Siegeszug der Social Media steht für eine neue Epoche im Internet: Das war anfangs ein Werkzeug zum Verbreiten, Suchen und Austauschen von Informationen – Wikipedia stammt aus dieser Zeit . Aber diese „Ära der Information“ wurde abgelöst vom Austausch und Streit in Social Media – also einer „Ära der Meinung“.

Ach, schon vor dem World Wide Web gab es online mit dem „Usenet“ ein riesiges, kaum moderierbares System voller Streit, Polemik – aber auch voller großartiger Diskussionen. Menschen waren immer zugleich vernünftig und laut, informativ und toxisch. Das hat sich nicht geändert. Es ist nur wichtig, die beiden Welten der Fakten und der Meinungen zu trennen – auf Wikipedia wie im Journalismus.

Der Gründer von „Wikipedia“

Jimmy Wales, 1966 in Alabama (USA) geboren, arbeitete nach seinem Wirtschaftsstudium kurz als Dozent, bevor er erfolgreich in die Finanzbranche wechselte. Mit dem Aufkommen des World Wide Web Mitte der 1990er Jahre gründete Wales das Portal „Bomis“ - das später das erste Online-Lexikon „Nupedia“ finanzierte. Im Januar 2001 startete Wales dann mit Larry Sanger und weiteren Mitstreitern „Wikipedia“ – mit Hobby-Autoren und -Redakteuren, die unentgeltlich ihr Wissen in das Projekt einspeisen und das Nachschlagewerk dadurch gratis halten. Durch ein nach und nach entwickeltes System zur Kontrolle und Fehlerkorrektur entwickelte sie sich rasch zu einer der weltweit bekanntesten Wissensplattformen überhaupt. Wales war Gründungsmitglied und von 2003 bis 2006 Vorsitzender des Kuratoriums der „Wikimedia Foundation“ – der gemeinnützigen Stiftung, die heute hinter Wikipedia steht. Daneben hat er das Unternehmen „Wikia“ (heute Fandom) mitbegründet, war an Projekten wie der Online-Zeitung „WikiTribune“ beteiligt und ist heute in sozialen Medien aktiv – zuletzt etwa mit dem Vertrauensnetzwerk Trust Café, mit dem er eine Alternative zu herkömmlichen Plattformen schaffen will.

Das klingt idealistisch. Zumal die nächste große Umwälzung bereits läuft: die Ära der Künstlichen Intelligenz. Schon jetzt beantworten K.I.-Chatbots Suchanfragen sofort in kurzen Sätzen – statt mit Links zu Artikeln, die man erst lesen muss. Müssen Sie, um konkurrenzfähig zu bleiben, auch bei Wikipedia bald K.I.-Werkzeuge einsetzen?

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Ja, vielleicht. Wir sehen uns das gerade genauer an. Bislang haben wir eine sehr einfache Suchmaske: nur über Keywords. Fragt jemand „Wie alt ist Tom Cruise?“, findet man den Artikel, bekommt aber nicht sofort die Antwort. Einer unserer Entwickler hat deshalb übers Wochenende mal ein kleines Tool programmiert, das Anfragen per K.I.-Suche in relevanten Artikel beantwortet. Das funktionierte erstaunlich gut. Wir werden das nicht morgen ausrollen, aber solche Tools könnten hilfreich sein. Aber die langen Artikel werden weiter gebraucht: Für komplexere Themen sind sie die verlässlichere Quelle. Noch halluziniert die K.I. sehr oft.

Gehören Sie zu denen, die vor einer K.I.-Blase warnen – analog zur Dotcom-Blase der 2000er-Jahre?

Kurzfristig überschätzen wir vieles, langfristig unterschätzen wir es. Das ist fast ein Naturgesetz technologischer Entwicklungen. Der Unterschied zur Dotcom-Zeit ist: Die heutigen großen Firmen verdienen bereits Geld mit K.I. Aber auch die Nachfrage nach Rechenleistung ist enorm, lokal auf dem Computer und auch in den Rechenzentren. Vielleicht wird die Zukunft dezentraler, vielleicht laufen viele Modelle lokal auf Laptops. Das wäre dann ein völlig anderes Bild als im heutigen Internet, in dem ein paar Konzerne alles dominieren.

Nicht nur die Künstliche Intelligenz setzt die Wikipedia unter Druck. Sie ist auch politischen Angriffen ausgesetzt. Schon als Elon Musk noch Berater von Trump war, hat er sie als „Wokepedia” attackiert – also als zu links. Auch Ihr erster Chefredakteur, Larry Sanger, wirft Wikipedia seit seinem Weggang 2002 vor, eine linke Schlagseite zu haben. Sie reagieren inzwischen extrem genervt auf die Debatte. Wie groß sind Ihre Sorgen angesichts dieser Vorwürfe?

Nicht allzu groß. Klar ist: Ich weise das entschieden zurück. Die Behauptung, Wikipedia sei von linken Aktivisten übernommen worden, ist schlicht Unsinn. Unsere Community hat eine echte Leidenschaft dafür, Neutralität zu wahren und alle Seiten einer Debatte fair abzubilden. Natürlich kann es in einzelnen Artikeln zu Schieflagen kommen – zum Beispiel, wenn ein Artikel nur von einer Person mit einer sehr bestimmten Sicht geschrieben wurde. Aber dann ist es Aufgabe anderer Autoren, das auszugleichen.

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Jimmy Wales im RND-Interview.

Elon Musk hat inzwischen eine eigene Enzyklopädie als Konkurrenz zu Ihnen gestartet – die statt mit Autoren allein mit K.I. arbeitet. Kann das zur Bedrohung werden?

Auch nicht. Wir nehmen die gezielte Angriffe auf Wikipedia schon ernst, aber strukturell und finanziell sind wir unabhängig. Wir nehmen kein Geld von Regierungen und kaum von Großspendern. Die Mehrheit unserer Einnahmen kommt von Millionen Kleinstspenden. Deshalb können uns Behörden oder Milliardäre wenig vorschreiben.

Und als Sie im April von Trumps leitendem Staatsanwalt in Washington Post bekamen, der drohte Ihnen den Status als gemeinnützige Organisation abzuerkennen – weil Sie angeblich „ausländische Propaganda“ verbreiten ...

... da haben wir so ruhig wie möglich geantwortet und fertig. Er kann uns nichts anhaben.

Weil Sie nicht von US-Boden aus operieren müssen?

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Auch das. Aber ich denke, selbst das werden wir wohl weiterhin tun (lacht). Zumindest noch eine Weile.

Das Buch "Trust. Die 7 Regeln des Vertrauens oder wie man Dinge von Dauer schafft" von Jimmy Wales.
„Trust. Die 7 Regeln des Vertrauens"
 
Neues Buch von Jimmy Wales

Das neue und erste Buch von Jimmy Wales heißt „Trust. Die 7 Regeln des Vertrauens – oder wie man Dinge von Dauer schafft“. Er hat es zusammen mit dem Journalisten Dan Gardner geschrieben. In Deutschland ist es jetzt im Piper Verlag erschienen (224 Seiten, 24 Euro). Wales beschreibt darin die Philosophie hinter der Wikipedia und erklärt, wie Vertrauen – strukturiert durch sieben Grundregeln – zum Aufbau dauerhafter Gemeinschaften beitragen und womöglich die Demokratie retten kann.