Russische Republiken kürzen Bonus für Fronteinsatz in der Ukraine
Das „Institut für Schwellenländer“ der Bank von Finnland (BOFIT) kam im vergangenen Juni zu einer überraschenden Erkenntnis: Die russische Bevölkerung habe in den ersten beiden Jahren nach Beginn des Ukrainekrieges, also in den Jahren 2022 und 2023, insgesamt eine höhere Lebenszufriedenheit empfunden und sei in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung optimistischer gewesen als im vorangegangenen Jahrzehnt, heißt es in einer Studie des Instituts vom 4. Juni 2025.
Und das sei genau dort der Fall gewesen, wo man es am wenigsten vermutet: Nicht etwa in Moskau und Sankt Petersburg, wo die russische Staatsmacht den Krieg von der dortigen bürgerlichen Mittelschicht nach Möglichkeit fernhält, sondern in den ländlichen Regionen des Landes, aus denen die meisten russischen Frontsoldaten in der Ukraine kommen.
Denn vor allem in den wirtschaftlich schwachen Gegenden, wo häufig nur schwere körperliche Arbeit bei kümmerlicher Bezahlung zu finden ist, überwiegen die finanziellen Vorteile einer Rekrutierung nach Erkenntnissen des BOFIT das wahrgenommene Todesrisiko: „Finanzielle Anreize wirken bei Bewohnern armer Regionen mit begrenzten Verdienstmöglichkeiten stärker als die Angst vor dem Tod“, sagte auch die unabhängige Journalistin Ann Suewa aus der Republik Burjatien der „Moscow Times“.
Antrittsprämie zum Militär fast verdoppelt
Dieser Effekt verstärkte sich über die Zeit: Kam ein Frontsoldat aus Burjatien, einer autonomen Republik innerhalb Russlands, wo Rekrutierungszahlen besonders hoch sind, 2022 auf ein Jahresgehalt von circa 2 Millionen Rubel (20.000 Euro zum damaligen Kurs), so hatte sich der Sold im Sommer 2025 inklusive der inzwischen ausgelobten Antrittsprämie auf 3,8 Millionen Rubel (39.600 Euro) knapp verdoppelt. In der Republik im Fernen Osten Russlands an der Grenze zur Mongolei ist das sehr viel Geld. Das durchschnittliche Jahresgehalt liegt dort bei 634.000 Rubel (6.600 Euro). „Die Erhöhung der staatlichen Zahlungen ist eine Möglichkeit, die wirtschaftliche Notlage der Menschen auszunutzen“, kommentiert Suewa den Zynismus der hohen Dotierungen des Militärdienstes.
Zu den Erhöhungen der Rekrutierungsprovisionen für den Kampfeinsatz in der Ukraine sah sich die Staatsmacht seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 fortlaufend gezwungen, um das erforderliche Personal anwerben zu können. Im Sommer 2024 konstatierte die unabhängige Exilzeitung „Nowaja Gaseta“, dass die Bonuszahlungen auf regionaler Ebene im Durchschnitt alle zweieinhalb Tage angehoben worden seien. Das galt auch für die armen Regionen, aus denen sich pro Kopf die meisten Menschen für den Krieg melden, wie aus den Republiken Burjatien, Dagestan oder Tuwinien. Viele von ihnen sterben. Nach Angaben des russischen Services der BBC und des unabhängigen russischen Nachrichtenportals „Mediazona“ beklagt Burjatien mit einer Einwohnerzahl von unter einer Million insgesamt 3.500 gefallene Soldaten in der Ukraine. Das ist mehr als das Doppelte der 1.555 toten Kämpfer, die Moskau mit mehr als zwölfmal so vielen Einwohnern erlitten hat.
Für die Gouverneure und Republikchefs waren die hohen Rekrutierungszahlen aber ein gutes Mittel, ihre Loyalität dem Kreml gegenüber zu bezeugen. Das führt allerdings zu einem Wettbewerb der Regionen untereinander. Die Kassenwarte der lokalen Behörden sahen sich gezwungen, immer größere Anteile ihrer Budgets für militärische Aufwendungen bereitzustellen, um ihre Mitbewerber zu überbieten und potenzielle Rekruten aus anderen Regionen Russlands und sogar aus dem Ausland anzuwerben.
Anfang Oktober reduzierten drei Regionen aber plötzlich ihre Prämien für eine Vertragsunterschrift – und zwar drastisch: Die Republik Tatarstan senkte die einmalige Antrittsprovision um mehr als das Sechsfache von einem Rekordbetrag von 2,7 Millionen Rubel (28.650 Euro), der potenziellen Rekruten seit August angeboten worden war, auf nur noch 400.000 Rubel (4.250 Euro).
Staatlich kontrollierte Medien schweigen
Während die früheren Erhöhungen der Zahlungen mit Anzeigen in staatlich kontrollierten Medien groß angekündigt wurden, erfolgte die Herabsetzung nun ohne Vorwarnung. Sie wurde vielmehr von „Idel.Realii“ entdeckt und bekannt gemacht, dem Regionaldienst von Radio Free Europa/Radio Liberty für die Wolga- und Ural-Region.
„Die Absenkungen der Boni werden schlicht deswegen vorgenommen, weil die regionalen Budgets nicht unbegrenzt sind“, sagt Maria Wjuschkowa, die die regionalen und ethnischen Ungleichheiten bei den Kriegsopfern Russlands erforscht zu „Idel.Realii“.
Tschuwaschien und Mari El, Nachbarrepubliken Tatarstans, folgten dem Beispiel stillschweigend und fuhren die Zahlungen aus den regionalen Haushalten von 2,1 Millionen (22.280) beziehungsweise 2,6 Millionen (27.590) auf ebenfalls jeweils 400.000 Rubel (4.250 Euro) herunter.
Drei Republiken zahlen nur noch den Mindestbonus
Damit kommen die drei Republiken nur noch für den gesetzlich vorgegebenen Mindestbonus von 400.000 Rubel auf. Am 31. Juli 2024 hatte Präsident Wladimir Putin ein Dekret unterzeichnet, in dem die Regionen verpflichtet wurden, eine Einmalzahlung von mindestens 400.000 Rubel für die Verpflichtung zum Kampfeinsatz in der Ukraine zu leisten. Gleichzeitig erhöhte Putin die Prämie, die der Kreml aus dem föderalen Haushalt für einen Vertragsabschluss zuschießt, von 200.000 auf 400.000 Rubel.
Während die großzügigen Einberufungsprämien entscheidend dazu beitrugen, dass Russland seine Frontlinien in der Ukraine fast vier Jahre lang immer wieder mit frischem Personal nachbesetzen konnte, spielte ein gewisser Zwang eine nicht minder wichtige Rolle: Den Republiken werden seit dem Sommer 2022 von Moskau Quoten für die Rekrutierung freiwilliger Kriegsteilnehmer vorgegeben, die sie erfüllen müssen. So erhielt etwa Jakutien, eine weitere dünn besiedelte Republik, aus der viele russische Soldaten in der Ukraine kommen, 2023 vom Kreml die Auflage 3458 Freiwillige oder 0,34 Prozent der Gesamtbevölkerung an die Front zu schicken, wie die „Stiftung Freies Jakutien“ herausfand, die sich als indigene Antikriegsbewegung versteht.
Die Quoten aus Moskau bestehen in den Regionen nach den Absenkungen der Antrittsprämien allerdings weiter. Minderheiten-Forscherin Maria Wjuschkowa fürchtet daher, dass sich nun der Einsatz von Zwangsmaßnahmen bei der Rekrutierung von Frontsoldaten verstärken könnte.
Unternehmen helfen Russland bei der Rekrutierung
Zu den milderen Mitteln zählt, dass jedes große Industrieunternehmen in Jakutien einen sogenannten „Mobilisierungsspezialisten“ beschäftigt, dessen Hauptaufgabe darin besteht, neu eingestellte Mitarbeiter davon zu überzeugen, sich beim Verteidigungsministerium (russische Abkürzung: Minoborony) für den Fronteinsatz zu verpflichten.
Den potenziellen Rekruten wird zugesichert, dass sie ihr Gehalt zusätzlich zum Sold des „Minoborony“ behalten können und eine einmalige Zahlung in Höhe von 450.000 Rubel (4.775 Euro) aus dem Republikhaushalt Jakutiens erhalten.
Zu den Unternehmen, die der Regierung bei der Rekrutierung von Kriegsteilnehmern in Jakutien helfen, gehören etwa die Bergbauriesen Alrosa (Diamanten), Aldanzoloto (Gold) und Seligdar (Gold, Silber Zinn) sowie der Öl- und Gaskonzern Surgutneftegaz.
Lokale Beamte greifen aber auch auf fragwürdigere Rekrutierungsmaßnahmen zurück, um die Quoten aus Moskau zu erfüllen. Dazu zählen die Anwerbung von Arbeitsmigranten, Obdachlosen und arbeitslosen Männern sowie Strafgefangenen.
Der neueste Trend beseht laut Wjuschkova darin, Männer, die wegen geringfügiger Vergehen festgenommen wurden, unter Androhung der Höchststrafe zur Unterzeichnung eines Vertrags mit dem „Minoborony“ zu zwingen.
Sie glaubt, dass dieses Vorgehen von Richtern und staatlich bestellten Anwälten in geheimem Einvernehmen außergerichtlich abgestimmt wird.
Ebenso vermutet Wjuschkowa, dass hinter der stillschweigenden Absenkung der Zahlungen eine Täuschungsabsicht der regionalen Behörden steckt. Männer, die auf der Suche nach finanziellem Gewinn bereit sind, in den Krieg zu ziehen, würden so in eine Falle gelockt: „Sobald sich die Türen des Wehrersatzamtes hinter diesen Leuten schließen, können sie irgendwie dazu gedrängt werden, den Vertrag zu unterschreiben, selbst wenn sie herausfinden, dass die Bezahlung nicht so hoch ist“, sagte Wjushkowa der „Moscow Times“. „Hinter diesen Türen gibt es keine Regeln oder Gesetze, die funktionieren“, meint die Minderheiten-Forscherin.