Unterlassene Hilfeleistung

Flüchtlingsdrama mit mindestens 94 Toten hat juristisches Nachspiel

Rettungskräfte bergen eine Leiche an einem Strand in der Nähe von Cutro, Süditalien, nachdem ein Boot mit Migranten bei rauer See auseinandergebrochen war. (Archivbild)

Rom. Dass in der Seerettungsorganisation in der fraglichen Nacht mehrere Dinge katastrophal schiefgelaufen waren, stand schon am Abend des Unglücks fest.

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Ein Aufklärungsflugzeug der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex hatte das Holzboot mit den über zweihundert Migranten an Bord schon am Vorabend gesichtet und die italienischen Behörden informiert. Diese schickten zwei Boote der Finanzpolizei los, die aber angesichts des tobenden Sturms und über vier Meter hohen Wellen umkehren mussten, bevor sie das Flüchtlingsschiff erreichten.

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Eine Meldung an die Küstenwache, die über robustere Rettungsboote verfügt, unterblieb. Dabei hätte es nicht viel Fantasie gebraucht, um sich auszumalen, dass ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot bei solchen Witterungsbedingungen erst recht überfordert sein musste.

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Die Küstenwache kam erst, als das Boot mit den Migranten bereits auf einer Sandbank vor dem kalabrischen Küstenstädtchen Cutro zerschellt war. Die Beamten konnten noch helfen, die ertrunkenen Flüchtlinge aus der Brandung zu bergen.

Mindestens 94 Tote und viele Vermisste

Nach offiziellen Angaben sind bei dem Schiffbruch 94 Menschen ums Leben gekommen, darunter 35 Kinder. Mehrere Dutzend Migranten konnten sich schwimmend an Land retten, aber viele blieben vermisst, sodass die tatsächliche Zahl der Toten deutlich über 100 liegen dürfte.

Wegen der mutmaßlichen Versäumnisse müssen sich ab dem kommenden Januar vier Beamte der Finanzpolizei und zwei Angehörige der Küstenwache vor dem Strafrichter verantworten. Dies hat die Untersuchungsrichterin von Crotone, Elisa Marchetto, auf Antrag des kalabrischen Staatsanwalts Pasquale Festa entschieden.

Der Staatsanwalt wirft den Beschuldigten in seiner mehrere tausend Seiten umfassenden Anklageschrift vor, ihren Pflichten nicht oder nur auf ungenügende Weise nachgekommen zu sein; die sechs Beamten müssen sich wegen Unterlassungsdelikten und fahrlässiger Tötung verantworten. „Das Unglück hätte vermieden werden können“, betont der Staatsanwalt in der Anklageschrift.

Salvini spricht von „Schande“

Die Entscheidung der Justiz, den Beamten den Prozess zu machen, ist von Vizepremier und Transportminister Matteo Salvini scharf kritisiert worden. „Ein einziges Wort: Schande. Sechs Beamte, die täglich ihr Leben riskieren, um andere zu retten, vor Gericht zu stellen – das ist eine Schande“, schrieb der Lega-Chef auf X.

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In den Augen der Opposition wiederum ist Salvini, der als früherer Innenminister die Häfen geschlossen und mit seinen Sicherheitsdekreten die Seenotrettung faktisch kriminalisiert hatte, zumindest moralisch mitverantwortlich für das Drama: Die Küstenwache, die früher stolz darauf gewesen sei, Menschen aus Seenot zu retten, seien von Salvini als Komplizen der Schlepperbanden verunglimpft worden. Da sei es psychologisch nachvollziehbar, wenn im Zweifelsfall vor einem Einsatz einmal gezögert werde.

Staatsanwalt nimmt Salvini wieder ins Visier

Auch die Politik der geschlossenen Häfen beschäftigt die Gerichte: Weil er das Rettungsschiff Open Arms der gleichnamigen spanischen Hilfsorganisation im August 2019 wochenlang nicht in Lampedusa anlegen ließ, wird Salvini vom Staatsanwalt von Palermo Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung vorgeworfen.

In einem erstinstanzlichen Urteil ist Salvini im vergangenen Dezember zunächst freigesprochen worden. Der Innenminister sei nicht verpflichtet gewesen, der Open Arms einen sicheren Hafen zuzuweisen; die internationalen und nationalen Normen seien diesbezüglich „unklar und widersprüchlich“, befanden die erstinstanzlichen Richter.

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Der Staatsanwalt von Palermo sieht dies freilich völlig anders und hat letzte Woche gegen den Freispruch eine Beschwerde beim Verfassungsgericht eingereicht. Dieses hat in einem anderen Fall in der Zwischenzeit entschieden, dass die Argumentation, wonach es keine Pflicht gebe, Rettungsschiffen mit Flüchtlingen an Bord einen Hafen zuzuweisen, „jeglicher Grundlage entbehrt“.

Die Beschwerde des Staatsanwalts dürfte deshalb hohe Erfolgschancen haben. Und das bedeutet wiederum, dass für Salvini, dem im Fall einer Verurteilung mehrere Jahre Gefängnis drohen, die Sache noch keineswegs ausgestanden ist.